Kanton Bodanrück – Sollte Bodman nach dem Krieg eidgenössisch werden?

Mit freundlicher Unterstützung von Ewald Weber und Christian Gnädinger

Sagen, Märchen, Fabeln und Anekdoten, Gedichte, Lieder und Balladen erhalten sich durch mündliche Überlieferung über viele Generationen hinweg. Aber bei geschichtlichen Ereignissen aus dem lokalen und persönlichen Bereich reicht die Erinnerung meist nur ein oder zwei Generationen bis zu den Erzählungen der Eltern oder Großeltern zurück, sofern diese mitteilsam und die Nachkommen wissbegierig sind.

Bei Vorkommnissen aus Kriegszeiten ist das spontane und zwanglose Mitteilungsbedürfnis bei vielen eher gering. Es muss nachgeforscht werden. Nur wenn geschichtlich interessierte Menschen den Dingen auf den Grund gehen und sie zu Papier bringen, haben sie eine Chance, der Nachwelt erhalten zu bleiben.

Auf eine solche Person hat uns Christian Gnädinger aus Bodman-Ludwigshafen aufmerksam gemacht. Es ist Ewald Weber aus Stahringen ein Cousin seines Vaters wie auch von Margret Honstetter vom Kellhof in Ludwigshafen. Obwohl der heute 80 Jährige bei Kriegsende erst knapp 3 Jahre alt war, erinnert er sich noch gut an viele Ereignisse. So etwa an einen Fliegerangriff auf einen Zug im Stahringer Bahnhof und seinen Blick in das Räderwerk eines Panzers, das ihn an Höhe übertraf. Unvergessen auch die Furchtlosigkeit, mit der er damals einem französischen Besatzungssoldaten aus nächster Nähe in die Augen blickte, als dieser, eine Maschinenpistole in der Hand, die Kellerfalle zum Schutzraum der Familie öffnete.

Ewald Weber erinnerte sich an Erzählungen von einer Demarkationslinie, die nach dem 2. Weltkrieg zu Beginn der französischen Besatzung eine Weile zwischen Bodman und Ludwigshafen bis nach Radolfzell verlief. Im Jahre 2004 begann er seine Nachforschungen und fand letzte Zeitzeugen in Stahringen, Bodman und Radolfzell. Einer von ihnen, Alois Martin aus Stahringen, war zur damaligen Zeit gerade erst 15 Jahre alt. Zusammen mit anderen wurde er vom französischen Militär zur Beschaffung und zum Transport der erforderlichen Holzpfähle eingesetzt. Zum Bau selbst scheinen keine einheimischen Kräfte herangezogen worden zu sein, da es zu dieser Zeit kaum arbeitsfähige Männer im Ort gab nur Kinder, Jugendliche und Alte. Es ist daher davon auszugehen, dass die Demarkationslinie von einem Pioniertrupp des französischen Militärs errichtet wurde.

Fotos aus dem Internet / Fotomontage

Von Alois Martin ließ sich Ewald Weber vorort den Grenzverlauf zeigen. Gemeinsam fuhren sie die ganze Strecke ab. Danach übertrug er die Angaben in mehrere Flurkarten und verzeichnete alle Übergänge. Von der Konstruktion des Grenzzaunes fertigte er nach Angaben seines Informanten einen Bauplan an. Von einem anderen Zeitzeugen, Ottmar Hirling, der an Weihnachten des Jahres 1945 aus der Kriegsgefangenschaft nach Stahringen heimkehrte, erfuhr er, dass zu dieser Zeit große Mengen Stacheldraht im Pfarrgarten deponiert waren, die wahrscheinlich vom Rückbau der Grenzanlage stammten. Wenn man bedenkt, dass die französischen Soldaten erst im Frühjahr, am 27. April 1945 in Stahringen einmarschiert waren, dann kann die Existenz des Bauwerkes nur von kurzer Dauer gewesen sein. Nach Meinung Webers waren es wohl nicht viel mehr als drei Monate.

Die Demarkationslinie war mit Stacheldraht gesichert. An Übergangsstellen waren Wachposten platziert. Jegliches Überqueren war streng reglementiert. Wollten die Bürger aus Bodman und Ludwigshafen in den anderen Ort wechseln, etwa um ihre Felder zu bestellen oder Verwandte zu besuchen, mussten sie einen Passierschein (‚laissez-passer‘) vorweisen.

In Bodman begann die Demarkationslinie nördlich des heutigen Strandbads, schlug im Dorf noch ein paar Haken und setzte sich über die Kaiserpfalzstraße schließlich entlang der heutigen Landstraße K6101 in Richtung Stahringen fort. Der erste Wachposten befand sich an der Kreuzung der Straßen Im Weiler / In Neustückern, der zweite an der Abzweigung Dettelbach und der dritte an der heutigen Einfahrt von der Kreisstraße K6101 in die Bundesstraße B34. In Stahringen waren es ebenfalls drei Wachposten. Der erste am Bahnübergang in der Bodmaner Straße, der zweite in der Nähe der Kirche und der dritte beim Bahnübergang in der Straße Zur Schanz. Das nächste Wachhäuschen in Richtung Radolfzell befand sich am Bahnübergang bei der Abzweigung der K6163 in Richtung Reute am Fuße des Oberen Brandbühl. Es folgten am Bahnübergang  bei den Reuteäckern der achte und am Bahn­übergang nördlich der Siedlung Altbohl der neunte Wachposten. Südlich der Siedlung, dort wo heute die Bahnlinie von der Landstraße L220 überbrückt wird und früher ein Bahnübergang war, lag der zehnte Posten. Die Demarkationslinie endete in der Bucht des Markelfinger Winkels. Kurz davor, wo sich heute die Konstanzer Brücke befindet, hatte das elfte und letzte Wachhäuschen seinen Platz.

Der Begriff  „Demarkationslinie“ wird im Politiklexikon der Bundeszentrale für politische Bildung als „eine vorläufige Grenzziehung (Grenzlinie) zwischen verschiedenen Hoheitsgebieten“ definiert. Und weiter heißt es: „Durch gegenseitige völkerrechtliche Anerkennung zwischen den Grenzländern werden Demarkationslinien zu Staatsgrenzen erhoben.

Welche Motive verfolgten die französischen Besatzer mit dieser provisorischen Grenzziehung? Warum wurde der Bodanrück von ihnen abgesperrt? Für die Gründung eines autonomen Hoheitsgebietes wäre der Landstrich ja wohl zu klein gewesen. Sollte der Bodanrück etwa in die Schweiz eingegliedert werden?

Nach dem Ersten Weltkrieg gab es schon einmal Bestrebungen, das schweizerische Staatsgebiet am Ostufer des Bodensees mit Vorarlberg zu erweitern. Durch den Friedensvertrag von Saint-Germain wurde das ehemalige Deutschösterreich gezwungen, Gebiete an andere Länder abzutreten, u.a. Südtirol an Italien. Bei einer Volksabstimmung 1919 in Vorarlberg sprach sich eine Mehrheit von 81% dafür aus, dass ihre Landesregierung Beitrittsverhandlungen mit der Schweiz aufnehmen solle. Auf Schweizer Seite gab es gegen das Vorhaben hingegen erhebliche Vorbehalte, weil ein Beitritt Vorarlbergs zu einer katholischen Konfessionsmehrheit geführt und das deutschsprachige Übergewicht verstärkt hätte. Der Bundesrat sprach sich schließlich für den status quo aus.

Weshalb die Eidgenossen auch auf Bodman und den Bodanrück keinen Wert legten, falls seitens der Franzosen überhaupt die Absicht bestanden haben sollte, entsprechende Gebietsänderungen am Überlinger See vorzunehmen, ist heute und mit unseren Mitteln nicht mehr in Erfahrung zu bringen. Vielleicht hielten sie es einfach für kein gute Idee mehr, oder einflussreiche Persönlichkeiten intervenierten an maßgeblicher Stelle. Schließlich reichen die familiären Beziehungen des gräflichen Hauses in Bodman bis nach Frankreich. Wir wissen es nicht. Vielleicht findet sich ja noch jemand, der den Grund dafür kennt?

Dass es Pläne gegeben haben muss, das abgegrenzte Gebiet aus dem Kontrollbereich der französischen Besatzungszone auszugliedern oder sogar die deutsche Staatsgrenze zu verschieben, darauf deutet der Verlauf der Demarkationslinie hin. Es war darauf geachtet worden, dass die Bahnlinie außerhalb der Sperrzone lag, so wie auch die Betriebswerkstatt der Bahn in Radolfzell mit Wasser­befüllungsanlage für die Dampflokomotiven.

Der Grund dafür war die Sicherung eines schnellen Verbindungsweges über die französisch besetzte Zone im bayerischen Landkreis Lindau in die Besatzungszone im Westen Österreichs.

Aber, wie bereits erwähnt, löste sich der ganze Aufwand nach kurzer Zeit in Wohlgefallen auf. Die Wachposten waren plötzlich nicht mehr besetzt. Die Demarkationslinie verschwand irgendwann und irgendwie. Wer sie abgebaut hat, weiß niemand mehr.

Wäre dem nicht so gewesen, hätte die Geschichte von Bodman und Ludwigshafen einen anderen Verlauf genommen. Für die Fischer vom Bodanrück hätte dies zumindest ein Gutes gehabt. Sie hätten Kaffee, Schokolade und Zucker nicht mehr zu schmuggeln brauchen. Und für die Fischer auf der anderen Seeseite wäre die Wegstrecke des grenzüberschreitenden illegalen Warenverkehrs nicht so weit und gefährlich gewesen wie am Obersee.

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