Global bewegt seit alters her

Die Seeend-Gemeinde Bodman-Ludwigshafen kann sich privilegiert fühlen und stolz darauf sein, Lebensraum für Menschen aus aktuell 56 Nationen zu bieten.

Immer schon haben Menschen aus anderen Ländern den Weg hierher gefunden und sind geblieben, weitergezogen oder wieder zurückgekehrt. Aber noch nie zuvor haben sich gleichzeitig so viele Bürger unterschiedlicher Herkunftsländer hier aufgehalten.

Afghanistan, Albanien, Belgien, Bosnien, Brasilien, Bulgarien, China, Dominika, Dominikanische Republik, Eritrea, Frankreich, Georgien, Griechenland, Großbritannien, Indien, Irak, Iran, Italien, Kambodscha, Kamerun, Kenia, Kolumbien, Kosovo, Kroatien, Kuba, Lettland, Marokko, Mazedonien, Mexiko, Montenegro, Niederlande, Nigeria, Österreich, Pakistan, Paraguay, Peru, Philippinen, Polen, Portugal, Rumänien, Russland, Schweiz, Serbien, Slowenien, Somalia, Spanien, Südafrika, Syrien, Taiwan, Thailand, Tschechien, Türkei, Ungarn, USA, Venezuela, Weißrussland.

Einige profitieren nur im privaten Rahmen von dieser kulturellen Vielfalt. Doch auch im öffentlichen Raum kann man daran Anteil nehmen. Restaurants bieten heute in Bodman-Ludwigshafen Spezialitäten aus Italien, Griechenland, Indien, Thailand und der Türkei an; zwei Generationen davor gab es „nur“ gutbürgerliche einheimische Küche. Die schwäbischen Maultaschen haben mit italienischen Ravioli, russischen Pelmeni, türkischen Manti, asiatischen Wantan und georgischen Khinkali ebenbürtige Artgenossen gefunden.


Migration findet seit Beginn der Menschheitgeschichte statt.

Mal wurde mehr, mal wurde weniger, mal wurde weit, mal wurde in die Nähe gewandert, mal ließ man sich für längere oder sehr lange Zeit an einem Ort nieder, mal zog man nur durch oder pendelte zwischen Orten hin und her. Seit jeher sind Menschen auf der Suche nach einem Ort, wo sie glauben, ein besseres Leben und eine Heimat zu finden. Selbst im spirituellen und religiösen Leben verstehen sich Menschen als Wandernde, wie es in dem Kirchenlied von Georg Thurmair in der Vertonung von Adolf Lohmann aus dem Jahre 1935 zum Ausdruck kommt: „Wir sind nur Gast auf Erden und wandern ohne Ruh der ewigen Heimat zu.“

Ohne Migration fände sich keine Menschenseele und gäbe es keinen Fortschritt am Seeende.

Wanderungsbewegungen des Homo sapiens sind der Grund für die globale Verbreitung des modernen Menschen. Dass aus den Jägern und Sammlern des Seeendes im Verlauf der „Neolithischen Revolution“ ab 6000 v.Chr. sesshafte, Ackerbau und Viehzucht betreibende Bauern wurden, ist im Lichte der heutigen Wissenschaft ebenfalls auf Migrationsbewegungen zurückzuführen. Genetische Analysen bestätigen, dass die wegweisenden Kulturtechniken wie Häuserbau, Tierhaltung, Nutzpflanzen und Töpferei  nicht von allein den Weg nach Mitteleuropa und an den Bodensee fanden, wie man früher glaubte. Die Erfinder selbst reisten mit ihrem „Neolithische Bündel“ über die „Balkanroute“ nach Norden, also auf derselben Route von Westanatolien über die Ägäis, die heute wieder von Migranten genutzt wird.

Im Anschluss an die verschiedenen Kulturen der Stein- und Bronzezeit, die alle weitläufige Fernhandelsbeziehungen pflegten, traten die Kelten in Erscheinung zu Beginn der Eisenzeit (ca. 850-15 v.Chr.). Ihnen folgten die Römer und nach dem Untergang ihres Imperiums rückten um 400 n.Chr. die Alemannen nach, die ihren Teil zum Ende Roms geleistet hatten. In dieser Zeit geriet die Region in den Strudel der Völkerwanderung, in der germanische Gruppen die Lande durchstreiften, teils getrieben von den Hunnen, teils aus eigener Initiative. Vielleicht sahen die Menschen vom Seeende bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal in mongolische Gesichter.

Im weiteren Verlauf der Geschichte tauchten Türken und Schweden auf, sowie Franzosen und deren Soldaten aus den nordafrikanischen Kolonien. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts fanden im Zusammenhang mit dem Bau der Bahnlinie italienische Wanderarbeiter den Weg an den See. Während des Zweiten Weltkrieges wurden Zwangsarbeiter aus den besetzten Ländern u.a. aus Serbien bei vielen Familien einquartiert. Nach dem Krieg mussten Flüchtlinge und Vertriebene aus dem Osten, darunter viele Russlanddeutsche, aufgenommen werden. Und in der Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs kamen durch insgesamt neun Anwerbeabkommen zwischen 1955 bis 1968 Menschen aus Italien, Spanien, Griechenland, Türkei, Marokko, Südkorea, Portugal, Tunesien und Jugoslawien nach Deutschland. Saisonarbeiter und -arbeiterinnen aus Polen und den Balkanstaaten sind heute in den landwirtschaftlichen Betrieben, im Hotel- und Gaststättengewerbe oder in der Alten- und Krankenpflege unentbehrlich.
Krieg und Armut, Klimawandel und Umweltkatastrophen haben in diesem Jahrhundert überall auf der Welt viele Millionen Menschen zur Flucht aus ihrer Heimat gezwungen. Ein kleiner Teil davon ist auch am Seeende „gestrandet“.
Und nicht zuletzt reisen nicht wenige „Einheimische“ im Urlaub, zu Studienzwecken oder aus beruflichen Gründen ins Ausland und bringen von dort einen Lebenspartner oder eine Lebenspartnerin mit.

Es wurde aber nicht nur eingewandert sondern auch ausgewandert.

Menschen aus dem heutigen Deutschland trieb es in alle Teile der Welt. Ob im Urwald oder Hochgebirge, in der Savanne, Steppe oder Wüste, in den verschiedensten Winkeln der Erde entstanden deutsche Siedlerkolonien, die lange Zeit unter sich blieben, ohne sich in die alteingesessenen Kulturen zu integrieren. In einigen Fällen wurden die Auswanderer angeworben; in anderen Fällen befanden sie sich auf der Flucht. Die Gründe für die Auswanderung waren unterschiedlich: hohe Steuerabgaben, Missernten oder religiöse Probleme.

Als Boat-People über’s Wasser. Erst nach Osten, dann nach Westen.

Auf Einladung von Zarin Katharina II. packten knapp 30 000 Deutsche zwischen 1764 und 1767 ihre Sachen und wanderten nach Russland aus. Sie gründeten über hundert Kolonien entlang der Wolga. Die Motive, das Land zu verlassen, ergaben sich vor allem aus den Folgen des Siebenjährigen Krieges (1756–1763). Andere gelangten auf „Ulmer Schachteln“ in die von den Habsburgern neueroberten Länder des südöstlichen Europas. In ihren neuen Siedlungsgebieten im heutigen Rumänien, Ungarn und Serbien entstanden die Volksgruppen der Ungarndeutschen und/oder Donauschwaben. Schätzungen sprechen von insgesamt rund 740.000 Menschen, die zwischen den 1680er Jahren und 1800 aus dem deutschsprachigen Raum nach Ost- und Südosteuropa auswanderten.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts folgten weitere Auswanderungswellen wiederum mit „Ulmer Schachteln“ und Flößen bis ins Mündungsgebiet der Donau am Schwarze Meer, aus denen sich die Volksgruppen der Bessarabien-, Dobrudscha- und Schwarzmeerdeutschen bildeten.

Während von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis in die 1830er Jahre die kontinentale Auswanderung nach Ost- und Südosteuropa dominierte, war es ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dann die transatlantische Auswanderung, und die USA war das bevorzugte Zielland. 90 Prozent der deutschen Auswanderer nach Übersee gingen in die Vereinigten Staaten. Mit großem Abstand folgten Kanada, Brasilien, Argentinien und Australien.

Insgesamt wanderten zwischen 1816 und 1914 rund 5,5 Millionen Deutsche in die Vereinigten Staaten aus. Zwischen 1847 und 1914 stellten Deutsche die stärkste Gruppe der Einwanderer in die Vereinigten Staaten.

Auch Bürger aus Bodman und Ludwigshafen machten sich auf in die Neue Welt. Ihre Namen finden sich auf einer Liste des Landeskundlichen Informationssystems von Baden-Württemberg.

Floss der Migrationsstrom in früheren Zeiten hauptsächlich in Ost-West-Richtung, so fließt er heute stärker von Süden nach Norden.

Zusammenfassend lässt sich sagen, die Migrationsgeschichte des Seeendes ist ein dynamisches Kontinuum, das mit vielen Vorteilen einhergeht.

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