Pension „Sidari“ – Sexoase hinterm Friedhof

Wer von der Kronbühlstraße in Ludwigshafen entlang der Friedhofsmauer in die Warthstraße einbiegt, trifft gleich hinter dem Gottesacker auf das Haus mit der Nummer 6, einen Ort mit einer wechselhaften Vergangenheit. Heute beherbergt es Wohngruppen des Pestalozzi Kinder- und Jugenddorfes Wahlwies. Anfangs war es eine kleine Druckerei mit Wohnbereich der Familie Dreher. Dazwischen war es allerhand sonst, immer ein bisschen untypisch für ein Wohngebiet, aber insgesamt unauffällig.

Doch im Jahre 1989 machte das Haus als Pension „Sidari“ Schlagzeilen. Die „Neue Revue“ widmete Ludwigshafen eine Doppelseite mit frivolen Bildern, schockierend für keusche Gemüter. Das Boulevard-Blatt war in kürzester Zeit vergriffen, musste nachbestellt werden. Die Hausnummer 6, nomen est omen, wurde Programm. Zehn „mutige Frauen“ hatten das kleine Gebäude in eine Oase für freien Sex verwandelt. Ludwigshafen wurde für einige zum Liebesnest vom Bodensee, für andere zum „sündigen Dorf„. Die „Sexuelle Revolution“, die von der Studentenbewegung von „1968“ ins Rollen gebracht worden war, hatte 20 Jahre danach schließlich auch das Seeende erreicht.

Liebesdienerinnen, die die Welt verändern wollten

Nein, die Pension „Sidari“ wollte kein gewöhnliches Bordell sein. Es verstand sich als Pilotprojekt mit einer weltverbessernden Vision und einer lebensreformerischen Mission, als ein „Transformatorisches Bordell“. Es diente der praktischen Umsetzung eines neuen, auf „freiem Sex“ basierenden Lebenskonzeptes. Sex und Liebe frei von Angst, Gewalt, Besitzanspruch und Eifersucht. In ihrem Buch „Rettet den Sex“, das in in einem politischen Manifest gipfelte, stellten die Liebesdienerinnen aus der Warthstraße ihre Utopien vor. Der Bericht der „Neuen Revue“ hat sich ganz sicher verkaufsfördernd auf die Vermarktung des Buches ausgewirkt, wenn es nicht sogar sein Hauptanliegen war. Als übergeordnetes Ziel findet sich dort nichts geringeres als die Rettung der Menschheit durch ein „neues Lebens- und Liebeskonzept“. Neben der Beschreibung der höheren Ziele des Vorhabens, finden sich darin auch intime Einblicke in die persönlichen Lebensgeschichten der Autorinnen und Liebesdienerinnen.

Aufruhr in der „verträumten Kleinstadt“ Ludwigshafen

Eigentlich hätte sich unsere Gemeinde freuen können, in der „Neuen Revue“ als „verträumte Kleinstadt“ bezeichnet zu werden und bundesweit Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, ja sogar in der Fernseh-Show von Jürgen von der Lippe eine Rolle zu spielen. Doch die Begeisterung hielt sich in Grenzen. Der Bericht und die Machenschaften in der Pension „Sidari“ lösten in der älteren Bevölkerung eine Protestwelle aus. Forderungen nach einer Schließung des Lokals wurden laut. Die jüngeren Kreise nahmen die Angelegenheit dagegen um einiges gelassener. Bürgermeister und Gemeinderat äußerte Verständnis für die Bedenken der Bevölkerung, folgte jedoch der Einstellung der Jungen. Auch ließen sie sich von den Kämpferinnen für einen „neuen sexuellen Humanismus“ davon überzeugen, dass die Einrichtung „Sidari“ rein gar nichts mit einem obszönen Puff zu tun hätte. Daher sahen sie von restriktiven Maßnahmen ab. Dies soll jedoch kein Hinweis darauf sein, dass -wie in ihrem Buch geschrieben- sich die Hoffnung jener Damen erfüllt hat, nämlich dass sich einige Personen des öffentlichen Lebens, die selbst diese Einrichtungen als Stammkunden benutzen, motiviert fühlen, ihre Arbeit privat und öffentlich zu unterstützen.

Wann die Pension „Sidari“ ihren Betrieb eingestellt hat, wissen wir nicht. Dazu müssten wir einheimische Stammkunden befragen, die wir nicht kennen. Zusammen mit ihrem 82-jährigen Partner, Dieter Duhm, verfolgt die Initiatorin, mit heutigem Namen Sabine Lichtenfels, inzwischen selbst siebzig, ihren Lebenstraum in einem kleinen Ort in Portugal bis heute weiter. Mit Hilfe der Neuen Medien, Web/YouTube/Facebook, bemüht sie sich auf das Projekt „Tamera – Zentrum für Friedensforschung und -ausbildung“ aufmerksam zu machen und den Aufbau von „Heilungsbiotopen“ zu fördern. Das Buch „Rettet den Sex“ ist in der Sammlung ihrer veröffentlichten Bücher noch präsent; die „Pension Sidari“ in Ludwigshafen wird in ihrer Biografie jedoch nicht mehr erwähnt.

Wer waren die Kämpferinnen des Eros

Alle Frauen, in den Jahren zwischen 1954 und 1963 geboren, gehörten jener Generation an, die für die Befreiung von Prüderie, Doppelmoral, moralischer Bevormundung und religiösen Zwängen kämpfte. Eine Generation, die experimentierfreudig und provokativ war, stets auf der Suche nach dem Sinn des Dasein und beseelt vom Wunsch nach einem erfüllten Leben. Eine von ihnen hatte Theologie studiert, eine andere war ausgebildete Krankenschwester, eine weitere Heimerzieherinnen, die übrigen betrachteten sich als Künstlerinnen, Schauspielerinnen und Tänzerinnen. Allen gemeinsam war, dass sie ausgiebige Erfahrungen in Clubs, Bordellen und anderen Formen des „horizontalen Gewerbes“ gesammelt hatten.

Fotos aus dem Buch „Rettet den Sex“

Sabine „Babette“ K., (geb. 1954)

Theologie-Studentin. Nach fünf Jahren Ehe „Lehrzeit für das horizontale Gewerbe“ in Marseille und Nizza. Kunstgaleristin in Radolfzell.


Beatrice B., (geb. 1957)

Ausgebildet in Heimerziehung und psychiatrischer Pädagogik, Tänzerin, Tätigkeit in Clubs und Bordellen. Mit einem zum „Liebeswagen“ umgebauten roten Lastwagen unterwegs.


Dolores R., (geb. 1957)

Hat ihre Pubertät in einer „sehr christlichen Jugendorganisation“ verbracht bis „Eros mit Überdruck in ihre Leibesformen schoß“. Reise durch die USA mit Besuch von Alternativkommunen. Politisch in verschiedenen linken und alternativen Initiativen engagiert. Töpferin und Tonkünstlerin. Mitarbeiterin in einem „Experiment für eine humane Erde“.


Johanna Sch., (geb. 1956)

Liebesarbeiterin, fasziniert von „jungen Harley-Davis-Rüpeln, die einfach drauflos rammeln, ziemlich rücksichtslos und mit jugendlicher Unbekümmertheit“. Bemüht die sexuelle Not knackiger junger Männer zu beheben, die allzu sehr und allzu lange von „anständig“ erzogenen Mädchen hingehalten und zur Ehe verpflichtet werden.


Dorothee „Dido“ F., (geb. 1962)

Krankenschwester, 3-jährige intensive Beziehung „bis nichts mehr da war von irgendeinem Interesse aneinander, sondern nur noch Langeweile“. Immer auf der Suche nach Antworten auf die grundlegenden Fragen des Lebens. Mitarbeit am Aufbau eines „Forschungszentrums zur Erzeugung wahrhaftiger Antworten, den Aufbau einer neuen Medizin und einer sozialen Lösung für das Zusammenleben von Männern, Frauen, Kindern …“.


Lee V. (geb. 1963)

Tänzerin und Schauspielerin in „experimentell-avantgardistischen Theater- und Filmproduktionen“. „Küchenchefin in der ökologischen Forschungsstätte Heretswilen in der Schweiz“.


Ute „Madjana“ G. (geb. 1959)

Tänzerin, Künstlerin und „Liebesdienerin“ in „verschiedensten bordellartigen Einrichtungen“. Ist begeistert vom Aufbau eines „transformatorischen Bordells mit Erospark“, in dem sie als „Geisha das Teehaus leiten und die Kunden bedienen“ will.


Maria K.

„Elementarwesen, für die der Sex so selbstverständlich ist wie Atmen oder die Freude am Schwimmen“. Bewegt sich zwischen Gartenbau, Kosmos und Sex und wäre in früheren Zeiten vermutlich als Hexe verbrannt worden „.


Cornelia „Gina“ Speck (geb. 1959)

„Aufgewachsen in einer Großfamilie mit Hotelbetrieb“, frühe „Karriere“ als Sekretärin, frühe sexuelle und traumatische Erlebnisse, die niemandem mitgeteilt werden konnten. Unterwegs in Clubs. Mitarbeit im Projekt Meiga und Angestellte in einem „Gästehaus am Bodensee“.


Über den Autor