Wie gerne hätte ich in meiner Kindheit einmal einen Hecht gegessen oder einen Zander, eine Seeforelle, einen Saibling oder Rötele. Mit anderen Worten: einen Edelfisch. Doch die waren immer für die Gastronomie bestimmt, wurden im „Adler“ oder in der „Krone“ abgeliefert, reisten sogar mit der Eisenbahn bis nach Konstanz ins „Inselhotel“ oder wurden von Kunden aus dem schwäbischen Hinterland mit dem Mercedes abgeholt. Denn das Fischen diente dem Broterwerb, und Fischer waren damals eher arm und auf klingende Münze angewiesen. Daher kamen auf die Teller der Fischersfamilie, die wir waren, meist nur Trüschen, Schleien und sogenannte Weißfische, wie Rotfedern, Rotaugen, Hasel, Döbel, sauer eingelegt mit Zwiebelscheiben nach Art von Bratheringen. Gelegentlich gesellten sich auch ein paar kleine (!) Kretzer dazu, in guter Butter gebraten, vom Kopf bis zum Schwanz, also keine Filetes oder Knusperle.
Das „Besondere“ all dieser Weißfisch-Arten ist, dass sie aufgrund der Vielzahl kleiner Gräte kein sorgloses Essen erlauben oder manchmal etwas „moosig“ schmecken, weil sie auf dem Grunde des Sees friedlich nach Nahrung suchen und sich nicht räuberisch andere Artgenossen einverleiben. Diese Eigenschaften machten sie für die verwöhnten Gaumen der Feinschmecker vom Bodensee quasi ungenießbar und damit unverkäuflich. Nur Heimatvertriebene aus dem Osten und Zuwanderer aus dem Norden Deutschlands interessierten sich für sie, weil sie die richtigen Rezepte kannten und natürlich auch des niedrigen Kaufpreises wegen. Manchmal gab es sie sogar umsonst. Besonders beliebt bei ihnen waren die größeren Spezies wie Karpfen, Brachsen und Alets, die sich wiederum nie auf dem Tisch meiner Großeltern wiederfanden.
Dass sich „der Fischer und syne Fru“, also meine Großeltern, Viktor und Agathe Lindenmayer, selbst einmal einen Edelfisch gegönnt hätten, habe ich nie bemerkt; es müsste heimlich geschehen sein. Und auch mein Vater hätte es sich nie erlaubt, seine Eltern oder später seinen Bruder um eine der teureren Fischvarianten zu bitten, obwohl ihm dieser Wunsch gewiss nicht abgeschlagen worden wäre. Als ob es sich dabei um einen Akt der Vermessenheit, ein Verstoß gegen ein ungeschriebenes Gesetz, die Mißachtung einer stillschweigenden Vereinbarung gehandelt hätte. Wenn es ihn nach einem Saibling oder Hecht gelüstete, schickte er Freunde vor, die diesen bei ihnen kauften und dann heimlich bei ihm ablieferten.
Uns Kindern wurden die „Läbberle“ schmackhaft gemacht. Und zu Laichzeiten gab es Roggen und Milchen, also die Eier- und Samenbehälter der Fische, im Klartext die Innereien. Auch wenn wir uns darüber freuten, alles gut geschmeckt und satt gemacht hat, gedanklich kreisten meine Vorstellungen immer und unweigerlich um Eingeweide und Resteverwertung.
Aber halt!
Hatten wir, wenn schon keinen Edelfisch, nicht vielleicht sogar das Edelste vom Fisch serviert bekommen? Diese Frage stellte ich mir später, als ich entdeckte, dass Fischeier als teuere Delikatesse gehandelt werden, wenn sie vom Stör stammen, aus Russland kommen und Kaviar genannt werden. Und wenn die Leber zuvor dem Dorsch gehört hatte, wird sie später in schmucken Dosen in den Regalen angesehener Lebensmittelgeschäfte zu finden sein.
Vielleicht hätte es also nur einer genialen Geschäftsidee oder eines erotischen bzw. exotischen Markennamens bedurft, um als Fischer reich zu werden und als Fisch-Kuttel-Esser sich privilegiert zu fühlen? Wie wäre es zum Beispiel mit: „Caviar du lac de Constance“ (Bodensee-Kaviar), „Pâté de foie de Drüsch“ (Drüschenleber-Pastete) oder „Sernatinger Fischmilch-Flambée“.
Heute einen Fisch (Wildfang) vom Bodensee zu bekommen, selbst einen Weißfisch, ist beinahe schon Glückssache. Die Fischbestände sind mit zunehmender Sauberkeit des Bodensees zurückgegangen bei steigender Nachfrage. Die meisten Kretzer-, Zander-, Hecht-Filetes, die in Restaurants auf der Speisenkarte stehen oder an der Fischtheke in Supermärkten angeboten werden, stammen häufig von Fischfarmen außerhalb Deutschlands.
Als ich vor nicht allzu langer Zeit am Ufer auf den zurückkehrenden Fischer wartete, im Glauben, dass er sicher froh sein würde, wenn ich ihm (für ein nostalgisches Fischgericht) eine Ladung Weißfische abkaufe, hieß es, ich müsse vorbestellen und etwas Geduld haben, denn es gäbe eine lange Warteliste. „Oh-ha wäggele, etz hommers räät, hon i no denkt. Wenn dees de Opa g’ahnt hett, denn wär er länger blibbe.“