Der Schieber, oder: Wer isst richtig?

„Mache alles so einfach wie möglich, aber nicht einfacher“, soll Albert Einstein einmal gesagt haben. Das war augenscheinlich lange nachdem in Deutschland das Besteck und das Tischgedeck erfunden wurden. Sei es, weil manche Menschen so viel Gerätschaft für unentbehrlich erachten oder weil sie sich durch reichlich Tafelsilber und Porzelan von Menschen anderer sozialer Schichten unterscheiden wollen.

Das Arsenal an Essgeschirr ist bei gehobenen Anlässen beeindruckend, wie man diesem 16-teiligen Gedeck entnehmen kann: Brotteller, Salatteller, Vorspeisenteller, Menüteller, Suppentasse, Gläser für Wasser, Wein, Apperitif. Dazu das passende Besteck: Buttermesser, Messer und Gabel für die Vorspeise, Messer und Gabel für den Hauptgang, Suppenlöffel, Gabel und Löffelchen für das Dessert. Nicht zu vergessen die Serviette und die vielen Spezialbestecke für z.B. Fisch und Weinbergschnecken.

Die Kunst, mit all diesen Elementen korrekt und versiert umzugehen, setzt einige Kenntnis und Übung voraus, mit deren Erwerb nicht früh genug begonnen werden kann. Denn, so ist noch heute zu hören, „was Hänschen nicht lernt, ….“ Damit wir Kleinen bloß nicht den Daumen zu Hilfe nahmen, um das Nudelhörnchen auf den Löffel zu bugsieren, bekamen wir einen Schieber anstelle eines Messers. Denn, auch hier heißt es: „Messer, Gabel, Schere, Licht sind für kleine Kinder nicht!“ So brauchten und durften wir uns nicht mehr die Finger „schmutzig“ machen.

Um den Kleinen dann auch noch die Handhabung des Löffels zu erleichtern, wurde dieser ergonomisch verbogen, damit sie ihn mit der Spitze voraus in das Schnäbelchen schieben konnten. Dabei war es bei den wuchtigen Löffeln früherer Zeiten durchaus höfischer Brauch, diese seitlich zum Munde zu führen.

So sah das erste Set der Jüngsten aus.

Schieber sind auch heute noch im Einsatz. In einigen Fällen in einer technischen Weiterentwicklung, die sich von der Empfehlung Albert Einsteins ein ganzes Stück weiter entfernt hat. Dieses Modell dient sicher weniger dem Erlernen von Tischsitten, als der Motivierung kleiner Essensverweigerer à la Suppenkasper.


In anderen Kulturen wurden in Sachen Nahrungsaufnahme andere Wege beschritten. De facto essen nur etwa 17 Prozent aller Menschen auf der Welt mit Besteck. Fast doppelt so viele nehmen Stäbchen, und mehr als die Hälfte aller Menschen, also rund 4 Milliarden Menschen essen hauptsächlich mit den bloßen Händen. Erst im 19. Jahrhundert haben Menschen in Europa angefangen, mit Besteck zu essen. Vorher haben auch sie ihre Hände benutzt. Esskultur ist keine Frage von richtig oder falsch, zivilisiert oder primitiv. Esskultur meint primär das kulturspezifische Regel- und Wertesystem beim Verzehr von Speisen, in das jeder Mensch hineingeboren wird. Aber vielleichtist es auch ein Ausdruck dafür, welchen Bezug wir zu unserer Nahrung und zu unserem menschlichen Miteinander haben.


Nun gut. Wurst und Wecken, einen Burger, sowie Muscheln, Krebse, Krabben, also alles was mit dem Besteck äusserst mühsam zu essen ist, verzehrt man auch hier und heute erlaubterweise mit den Händen. Ein Brathähnchen im Restaurant mit den Händen anzufassen, war anfangs dagegen schon grenzwertig. Als der „Wiener-Wald“, eine in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts gegründete und damals überaus erfolgreiche Restaurant-Kette, zur nachträglichen Reinigung der Finger neben das fettige Grillhähnchen Feuchtwischtücher mit Zitronenduft legte, wurde händisches Hendl-Essen salonfähig.


Der erste Versuch, Zitronenwasser in Schälchen bereitzustellen, wie es wohl in „feinen Häusern“ Wiens Sitte war, schlug fehl. In einfacheren Bevölkerungskreisen schien die Maßnahme nicht verstanden worden zu sein. Mancher Gast trank das Schälchen leer – wohl zur besseren Verdauung.

Mit den Fingern essen ist inzwischen „hipp“. Der Begriff „Fingerfood“ macht´s möglich. Nur wenige werden noch behaupten, mit den Händen zu essen sei primitiv. Im Gegenteil. Es ist lustvoll und der Gesundheit zuträglich. Denn, wer zum Essen die Finger benutzt, verbrennt sich den Mund nicht.

Über den Autor