Von der „Blauen Katz“ gibt es keine Fotos. Niemand weiß mehr, wer sie war, woher sie kam und warum man sie so nannte. Vielleicht könnte man es in den Kirchenbüchern recherchieren, für die Geschichte hier ist es aber nicht wirklich von Bedeutung.
Von jüngeren Generationen ist zu erfahren, dass im Kreise älterer Bekannter der Name „Blaue Katz“ zwar gelegentlich erwähnt wurde, aber nie ganz klar war, um was für ein Wesen es sich dabei handelte. Marlies Bader, heute selbst achtzigjährig, ist möglicherweise noch die einzige, in deren Erinnerung sich eine vage Vorstellung von ihr erhalten hat. Was ihr im Gedächtnis geblieben ist, sind die Kindergeschichten einer noch älteren Generation, die von Nervenkitzel und Angst handelten, wenn es die Lausbuben und-mädchen von damals mal wieder gewagt hatten, der „Blauen Katz“ einen Streich zu spielen, sie zu „fuxen“.
Besonders aufregend sind Streiche ja dann, wenn sie wie Mutproben mit einer gewissen Gefahr verbunden sind. Und die „Blaue Katz“ gab dafür ein ideales Opfer ab. Denn einerseits konnte man davon ausgehen, dass von ihr keine ernste Bedrohung ausging, schließlich war sie auf sich alleine gestellt, mittel- und machtlos. Andererseits war sie aufgrund ihrer Erscheinung und ihrer Lebensweise für Kinder durchaus unheimlich. Die „Blaue Katz“ war ein alter Mann, dessen Überleben von der Barmherzigkeit anderer abhing, denn ein Recht auf Sozialfürsorge und Grundsicherung gab es noch nicht. Er lebte im Armenhaus der Gemeinde, in dessen Untergeschoss ein Geisbock von legendärem Gestank untergebracht war, der die Begattung der Dorfziegen als einzige Aufgabe hatte. Das Gemeindehaus befand sich vor dem späteren Farrenstall, dem heutigen Feuerwehrhaus von Ludwigshafen – an der Schorenstraße Ecke Hegaustraße.
Um die Frustration und die daraus erwachsende Wut eines völlig mittellosen, auf Almosen angewiesenen Menschen zu provozieren, um den es sich bei der „Blauen Katz“ handelte, war nichts naheliegender, als einen Geldbeutel an einer Schnur zu befestigen, ihn gut sichtbar auf die Straße zu legen und ihn kurz vor dem Zugriff des Finders wegzuziehen.
Die verpuffte Hoffnung auf einen kleinen, kurzzeitigen Reichtum schien die „Blaue Katz“ dermaßen in Wut versetzt zu haben, dass sie bei den Kindern für ein paar schlaflose Nächte sorgte.
Vielleicht hat sich der alte Mann über den Streich der kleinen Rotznasen tatsächlich geärgert? Vielleicht wollte er ihnen aber auch nur den Spaß nicht verderben und freute sich im Stillen, dass seine Person noch nicht der absoluten Bedeutungslosigkeit preisgegeben war, sondern Aufmerksamkeit genoss und -ja sogar- Unterhaltungswert besaß.
Vom „Burgele“ können wir uns eine bessere Vorstellung machen dank der Aufzeichnungen im Wandertagebuch von Fritz Sulger (+ 1915) und eines Fotos darin, das jemand, dem die Erinnerung an sie wichtig war, gemacht hat. Ronald Winterhalter hat beides aufbewahrt und uns zur Verfügung gestellt.
Das „Burgele“ war eine „steinaltes“ Weiblein und wie die „Blaue Katz“ auf die Wohltätigkeit anderer angewiesen. Ganz sicher waren beide aber nicht die einzigen im Ort, die zu Beginn des letzten Jahrhunderts ihre Zufriedenheit in Demut und Armut finden mussten. Verzicht und Entbehrungen beherrschten das Leben vieler Familien und alleinstehender Menschen, die in jenen Tagen gerade so ihr Auskommen hatten. Wenige brachten es zu bescheidenem Wohlstand und hatten, gewissermaßen, mehr als genug. Luxus und Überfluss, wie er heute zu sehen ist, waren nur mit ganz wenigen Namen verbunden, die nicht einheimisch klangen und wieder verschwunden sind, wie Callenberg und Callenius.
Das Foto und die Beschreibung im Tagebuch von Fritz Sulger bieten viel Raum für Fragen und kontemplative Gedanken. Er zeichnet das Bild einer heiteren Person, der manchmal ein witziges Liedchen über die Lippen kam. Er nannte es Loblied auf die Ludwigshafener Buben, was zu Zweifeln berechtigt, wenn es dort heißt:
(…)
und die Ludwigshäfler Bube
hend alle grume Fües
und hend se kone krume
no hend se doch Kröpf
und tanzed wie d’Bäre
und stinket wie d’Böck
(…)
Wir lesen weiter, dass unter ihrem „‚Leible‘ immer ein sehr sauberes Hemd hervorlugte“, sie also sehr auf ihr Äußeres bedacht war. Dienten ihr die Blumen, die sie sich umband, daher als Schmuck? Oder war sie eine heilkundige Frau, die zum Schutz vor Unheil und Krankheit immer Kräuter bei sich trug?
Hat das „Burgele“ unter der Armut gelitten oder hat diese ihr gar zum Glück verholfen? War das Fehlen von materiellem Besitz ein Zeichen für ihre Bedürftigkeit oder eher ein Ausdruck ihrer Bedürfnislosigkeit, die es ihr erlaubte, sich ganz Gott und der Schöpfung zu widmen, wie man es von Bettelmönchen wie Franz von Assisi kennt? Sammelte sie Ähren aus Not? Oder wollte sie verhindern, dass Nahrung verkommt? Konnte sie sich von dem, was andere achtlos übrig oder ungenutzt ließen, vielleicht sogar bestens ernähren, so wie es heute junge Leute, die Essen aus Abfall-Containern retten, wieder vormachen?
Wie gut, dass Fritz Sulger das „Burgele“ vor dem Vergessen bewahrt hat und uns damit zum Nachdenken anregt über das Damals und das Heute, über das Genug und das Mehr-als-Genug, über das Haben und Sein und über einen möglichen Zusammenhang von Besitzlosigkeit und Glück, der den meisten von uns unvorstellbar scheint.
„Ninnt ho isch ä ruhige Sach!“, höre ich meinen längst verstorbenen Großvater heute noch sagen, der das „Burgele“ sicher auch noch gekannt hat.
Das „Burgele“ starb allein unter freiem Himmel in Gottes weiter Natur mit einem Blumenstrauß in der Hand.