Ernteprojekt „Gelbes Band“
Das „Gelbe Band“ macht seit Oktober diesen Jahres Schlagzeilen in der lokalen Presse. Es wird als innovatives Projekt gepriesen und beworben, um die Menschen für einen bewussteren, wertschätzenden Umgang mit Lebensmitteln zu sensibilisieren und den Blick auf regionales und saisonal verfügbares Obst zu lenken. Denn jährlich landen in Deutschland rund zwölf Millionen Tonnen Lebensmittel in der Tonne – ein Großteil davon ist Obst und Gemüse. Deshalb posieren Bürgermeister und Ortsvorsteher mit Naturschützern und Nahrungsmittelrettern unter gelb bebänderten Apfelbäumen als Schirmherren dieser Initiative. Die Früchte von Bäumen und Sträuchern, die mit einem „Gelben Band“ markiert werden, dürfen für den eigenen Bedarf ohne Rücksprache kostenlos gepflückt und aufgelesen werden.
Im Rahmen der ersten bundesweite Aktionswoche „Deutschland rettet Lebensmittel!“ vom 22.-29. September 2020 gewann der Landkreis Esslingen mit seinem Ernteprojekt „Gelbes Band“ den Bundespreis „Zu gut für die Tonne!“ in der Kategorie Landwirtschaft und Produktion des Bundesministeriums für Landwirtschaft und Ernährung. Die Initiative, die bereits 2019 ins Leben gerufen wurde, inspirierte viele weitere Gemeinden in Deutschland, besonders im Süden Baden-Württembergs. Inzwischen wehen in vielen Streuobstanlagen mehrerer Städte und Gemeinden unserer Region „Gelbe Bänder“. Sigmaringen, Überlingen, Meersburg, Singen und die zugehörigen Ortsteile haben mit diesem Thema auf sich aufmerksam gemacht. Ein gelbes Band oder eine gelbe Schleife gilt als Symbol für Solidarität und Unterstützung, das auch in anderen sozialen Kontexten Verwendung findet.
Die Idee ist wegweisend. Aber neu ist sie nur insofern, als durch ein Gelbes Band signalisiert wird, dass die gesamte Ernte der Früchte ungefragt von Fremden für den Eigenbedarf gepflückt oder aufgelesen werden darf. Denn eine Nachlese von Obst und Feldfrüchten war bis zur Mitte des vergangenen Jahrhunderts ein häufig praktizierter Brauch, ja oft sogar ein gesetzlich geschütztes Recht (Nachleserecht). Bei der Ernte war eine Nachlese seitens des Besitzers manchmal sogar streng verboten. Der Rest sollte immer für die Armen und die Wildtiere übriggelassen werden.
An einigen Stellen wird schon in der Bibel ein Nachleserecht beschrieben: „Wenn Du deine Ernte auf deinem Feld einbringst und du hast eine Garbe auf dem Feld vergessen, sollst du nicht umkehren, um sie zu holen. Für den Fremden, für die Waise und für die Witwe soll sie sein.“ (5. Mose 24,19)
Siëchlë hieß die Obstnachlese am Seeende.
Mit Siëchlë ist die Obstnachlese gemeint, die ab 1. November allen erlaubt war. Ihr widmeten sich in der Regel ärmere Familien, die über keinen landwirtschaftlichen Grundbesitz verfügten. Siëchlë war aber auch für Kinder und Jugendliche von Interesse, die das Obst danach zur Mosterei brachten und sich damit ein kleines Taschengeld verdienten. „I ho immer gern g‘siëchlët und mi gfreit über dië paar Mark, wo mer bim „Sinner“ kriëgt hond,“ sagt Marlies Bader (geb. Höfler). Äpfel und Birnen, die noch in den Wipfeln der Bäume hingen, wurden mit einem Obstpflücker abgegriffen oder mit einem „Birrehokë“ heruntergeschüttelt. Leitern durften nicht benutzt, Äste nicht abgebrochen und der Baum in keiner Weise beschädigt werden.
Kartoffeln und Getreideähren durften direkt nach der Ernte, also nach dem Abräumen der Felder nachgelesen werden. Die nach dem Schnitt und Abtransport des Getreides auf dem Feld liegen gebliebenen Ähren wurden gesucht und aufgesammelt. Vom Burgele wissen wir, dass sie das Ährenlesen zur Sicherung ihres Lebensunterhalt betrieben hat.
Lebensmittel waren der Generation unserer Großeltern und Urgroßeltern lieb und teuer. Sie hatten sie im Schweiße ihres Angesichtes nicht nur selbst erzeugt, sondern durch zwei Weltkriege auch schmerzlich erfahren, was es bedeutet, sie entbehren zu müssen. Die Verschwendung von Nahrungsmitteln war für sie nicht nur Zeit- und Kraftvergeudung, sondern ebenso unmoralisch und kam einer Sünde gleich.
Dass Altes in neuem Gewande wieder erscheint, kommt sehr häufig vor. Es ist schön mitzuerleben, dass das Siëchlë in leicht abgewandelter Form wieder in Mode kommt. Daher ist die Aktion „Gelbes Band“ den Initiatoren hoch anzurechnen, und umso mehr, als heute die Rettung von Nahrungsmitteln aus Containern von Lebensmittelgeschäften noch unter Strafe steht. Mit den Urheberrechten wollen wir es da nicht so genau nehmen, denn das Plagiat ist in diesem Falle höchst erwünscht. Nachahmung ist schließlich eine Grundlage der menschlichen Entwicklung.
Das Ernteprojekt „Gelbes Band“, das wissen wir jetzt und sollten es nicht vergessen, nannte man vor einem halben Jahrhundert bei uns „Siëchlë„.