Weihnachten, das Fest der Liebe und der Familie. Es gibt wahrscheinlich kein anders Datum im Jahresverlauf, mit so einer verinnerlichten Tradition und gepflegten Ritualen, wie dieses Hochfest. Jede Familie hat vermutlich seit Jahrzehnten, vielleicht sogar seit Generationen unantastbare Tagesabläufe an Weihnachten. Aufstehen, Christbaum schmücken, das alljährlich identische Essen vorbereiten, eventuell noch letzte Besorgungen machen, abschließend die Wohnung in einem glitzernden, weihnachtlichen Ambiente erscheinen lassen und natürlich Verwandtschaft besuchen. Einer der wichtigsten Bräuche an diesem Festtag ist der gemeinsame Besuch der Christmette. Wenn auch die Kirche von vielen das Jahr über eher von außen betrachtet wird, an diesem Tag muss es ein Gang in das Innere sein.
Die Winter früher waren deutlich kälter und länger als heutzutage. Der Weg zur Kirche oft mühsam und mit kalten Füßen verbunden. Ein Aufwärmen in den Kirchen zur damaligen Zeit nur schwer möglich, da diese ohne Heizung und häufig durch viele Öffnungen mit reichlich Frischluft gesegnet waren. Zu guter Letzt dauerte die Christmette bis zu zwei Stunden, was so manchem während des Gottesdienstes den alljährlichen Gedanken in den kalten Schädel trieb, das war es dann auch wieder für 12 Monate.
Die Armut vieler Bauerndörfer Anfang des 1900 Jahrhunderts, wie es auch Sernatingen war, spiegelte sich im allgemeinen Zustand der Kirchen wieder. Auch die St. Otmar Kirche blieb davon nicht verschont. 1810 schrieb der damalige Pfarrer Hetzinger einen Visitationsbericht an die vorgesetzte Kirchenbehörde, in dem er den schlechten Zustand seines Gotteshauses eindringlich schilderte.
„Dies Kirchengebäude, als die Kirche selbst, der Turm, die Sakristei, sind in einer so schlechten Verfassung, dass man 1000 Meilen reisen darf, ehe man es so wiederholt antreffen wird. Auch hat der hiesige Heilige (Kirchenfonds) nichts als Schulden, die den Aktiv-Stand weit übersteigen, also unfähig, eine Reparatur auszuhalten. Steht man mitten in der Kirche, so wie es bei Katechesen geschieht, so sehe ich eben zum Dach hinaus, welches so schlecht und durchlöchert ist, als wie der Stall zu Bethlehem. So, wie es regnet oder schneit, ist die Kirche voll Wasser und überhaupt von Feuchtigkeit ganz grün. Das Dach, wo die Orgel steht, ist mit Bengeln unterstützt, um es vor dem völligen Einsturz zu verwahren. Ein wahrlich Trauerspiel ist dieser Anblick und es bedarf dringender Abhilfe“.
Am 1. Weihnachtsfeiertag 1810 kam es, wie es kommen musste. Während des Hochamtes spitze sich die Wetterlage dramatisch zu und ein gewaltiger Tiefausläufer überraschte die Kirchenbesucher während des Gottesdienstes. Kurz nach der Wandlung gab es heftigen Regen, gemischt mit nassem Schnee und starken Sturmböen. Blitzschnell füllte sich das gesamte Gotteshaus mit Wasser. Insbesondere das Kirchenschiff war betroffen, lediglich der Chorraum blieb von den sintflutartigen Regenfällen einigermaßen verschont. Der Pfarrer entschied, trotz dieser einschneidenden Situation, den Gottesdienst zu Ende zu bringen, er stand ja gewissermaßen noch im Halbtrockenen.
Jedoch viele der Gläubigen rannten ins Freie, die Angst war größer als das Gottvertrauen. Sie befürchteten, das Dach der Kirche könnte über ihnen zusammenfallen. Wer dennoch gottesfürchtig bis zum Schluss des Hochamtes ausharrte, suchte Zuflucht unter Balken oder in Nischen. Die Männer setzten Ihre Hüte auf, während die Frauen und Kinder sich ihre Mäntel über den Kopf zogen, um Schutz vor Wind und Regen zu finden. Die Austeilung der Kommunion war allerdings nicht mehr möglich, denn zwischen der Kommunionbank und dem Kirchenvolk stand das Wasser knöcheltief.
Angesicht dieses massiven Naturereignisses musste Pfarrer Hetzinger die Abhaltung der Gottesdienste vorübergehend einstellen, bis Handwerker die Löcher im Kirchendach hinreichend geflickt hatten. Während dieser Zeit wich man in die kleine St. Anna Kapelle aus. Diese war allerdings viel zu beengt, um allen Gläubigen Platz zu bieten. Es dauerte noch einige Zeit, bis die Gottesdienstbesucher wieder unbeschwert, ohne den notwendigen Regenschutz, Gottesdienste feiern konnten.
In den Jahren 1961/ 1962 wird das alte Kirchenschiff, nach vielen provisorischen Sanierungen, komplett abgerissen und anschließend neu aufgebaut. Nur der Turm und der Chorraum haben Bestand und werden in die Neuplanung aufgenommen. Nach grundlegender Sanierung dieser beiden alten Gebäudeteile und dem neuen Kirchenschiff erhält die Pfarrkirche das zukünftige Format und Erscheinungsbild, so wie wir es heute kennen. Bessere Fenster, weniger Ritzen, programmierbare Heizungsanlage, neue Beleuchtung, absolut regenfestem Dach und dazu deutlich mildere Winter. (Siehe auch Artikel: „The Tower of Sernatingen“).