Mit Biene und Borkenkäfer – Sexualmoral und Sexualkunde in früheren Zeiten

Das Interesse an den körperlichen Besonderheiten des anderen Geschlechts beginnt früh. Wir Kinder von damals nannten es „Dokterles spielen“, wenn wir gegenseitig unsere intimen Körperstellen untersuchten und erkundeten. „Ich zeig Dir meins, du zeigst mir Deins.“ Das musste natürlich alles im Verborgenen stattfinden, denn es war streng verboten und eine schwere Sünde. Gott sei’s gedankt, stand wir zu jener Zeit noch nicht unter der permanenten Kontrolle der Erwachsenen. Der Begriff Helikoptereltern, für überfürsorgliche Eltern, die sich ständig in der Nähe ihrer Kinder aufhalten, um diese zu behüten, zu überwachen und sich exzessiv in ihre Angelegenheiten einzumischen, war noch nicht geboren.

Dem Pater P. Cölestin Muff, Benediktiner von Maria Einsiedeln, hätte dieses elterliche Verhalten große Freude bereitet, ist es doch die Umsetzung seiner bereits 1903 an die Mütter gerichteten Direktive: Wachet über eure Kinder. Ihr müsst allzeit wissen, was sie reden, was sie tun, wenn’s möglich ist, selbst was sie denken.“

Und er ermahnt sie:

Glücklicherweise hatten wir Kinder noch zahlreiche Freiräume, Rückzugsgebiete und Verstecke, wo wir die Geheimnisse des Lebens noch auf eigene Faust erkunden konnten. Die Inobhutnahme-Vielfalt von heute, wie organisierte Freizeit- und familienergänzende Betreuungsangebote standen noch nicht zur Verfügung. Neben Feld, Wald und Wiesen, gehörten Holzschopf, Geräteschuppen, Heustock (Heischtok) zum Spektrum unserer Spielplätze.

Sichtschutz für alles, was dem Auge der Erwachsenen verborgen bleiben sollte, bot auch der Stizebomm (Stützenbaum), wo einst alle Baumstützen wie ein Indianerzelt an den Stamm gelehnt waren. Seit es die modernen Obstplantagen gibt, ist er verschwunden.

Der Begriff „Dokterspiele“ ist inzwischen in den Fachjargon der frühkindlichen Pädagogik übergegangen. Heute betrachtet man es als natürliches, notwendiges und toleriertes Verhalten der kindlichen Entwicklung. Davor war der Begriff ein „Geheimcode“ der Kinderkultur. Denn nur so ist es zu erklären, das uns die Ordensschwester im Kindergarten einmal dazu motivieren wollte, Doktor zu spielen, als wir auf sie einen gelangweilten Eindruck machten. Sicher hatte sie dabei Dinge wie Finger verbinden, Wickel auflegen oder Hustensaft verabreichen im Sinne. Aber wir dachten an etwas ganz anderes, über das wir sie heimlich grinsend im Unklaren ließen.

Was also heute als häufiges, normales und zur kindlichen Entwicklung gehörendes Verhalten gewertet und geduldet wird, war noch in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts der Keim allen Bösen, ein  Werk des Teufels. Unkeuschheit führte unabwendbar ins Verderben. Der Pater, von dem zuvor schon die Rede war, verglich in seinem Büchlein „Die Hausfrau nach Gottes Herzen“ die Sünde der Unkeuschheit mit dem Werk des Borkenkäfers, wobei er zumindest insektenkundlich völlig daneben lag. So wie der Borkenkäfer die zarten Blüten befalle und zerstöre, so verderbe die Sünde der Unkeuschheit die Herzen der Kinder.

Der moralisch-sittliche und religiöse Druck, den auch der Pfarrer, der von 1959 bis 1964 in Ludwigshafen wirkte und von gleicher Gesinnung war, bei den Kindern aufbaute, hatte beim Autor dieses Beitrags zur Folge, dass er in seiner Kindheit samstags in der häuslichen Wanne zeitweise nur mit Badehose badete, um sich nicht der Gefahr einer unkeuschen Betrachtung seiner intimen Körperstellen auszusetzen. (Die Betonung liegt auf zeitweise!)

Ein Kind sollte wie die Ehefrau und Mutter brav, gehorsam, fromm und keusch in Gedanken, Worten und Taten sein. Der Beichtspiegel half ihnen detailliert bei der Gewissenserforschung in diesen Dingen. Und er tut es bis heute. P. Martin Ramm FSSP (Fraternitas Sacerdotalis Sancti Petri / Priesterbruderschaft Sankt Petrus) will es in seinem Beichtspiegel aus dem Jahre 2019 genau wissen:

Habe ich unkeusche Gedanken und Phantasien mit Wohlgefallen in mir unterhalten? - freiwillig unkeusche Empfindungen in mir hervorgerufen? Habe ich in unkeuscher Absicht gewünscht, etwas zu sehen, zu hören, zu tun? Habe ich mich mit Freuden an früher begangene Sünden erinnert? Habe ich sündhaften oder gefährlichen Umgang gehabt? Habe ich Unkeusches getan? - allein? - mit andern? - oder zugelassen? - geduldet? Habe ich gefehlt durch widernatürliche Praktiken? Habe ich gesündigt durch Selbstbefriedigung?“

In diesem lust- und geschlechtsfeindlichen gesellschaftlichen Umfeld mussten wir uns eine reale Vorstellung davon, wie Kinder gemacht werden, selbst erarbeiten. Das Märchen vom Klapperstorch, der die fertigen Babys aus einem Teich fischt, war nur für die ganz Kleinen. Spätestens als die Themen Zeugung und Befruchtung ins Spiel kamen, wurde es mit den Erklärungsversuchen für Eltern und Lehrer komplizierter, ja regelrecht peinlich. Man wich zunächst auf eine andere Metapher aus der Tier- und Planzenwelt aus und überließ die Aufgabe oft den Lehrerinnen und Lehrern des Biologieunterrichts. Jetzt betraten Bienchen und die von ihnen bestäubten Blumen die Bühne der Aufklärung. Doch ihre Karriere dauerte nur kurz.

Mit dem Jugendmagazin „Bravo“, das ab 1956 zu neuem Denken anregte, hielt die Aufklärung in Westdeutschland lange vor dem schulischen Sexualunterricht Einzug in deutsche Jugendzimmer. Um die Fragen und Sorgen der Heranwachsenden kümmerte sich ab 1969 „Dr. Jochen Sommer“ mit der Doppelseite „Liebe, Sex und Zärtlichkeit“. Die Zeitschrift wurden hauptsächlich dieser beiden Seiten wegen gekauft und mit großem Eifer gelesen.

„Bravo“ war jahrzehntelang die Lieblingslektüre aller Jugendlichen.

Bereits 1951 hatte die Unternehmerin und Kunstflug-Pilotin Beate Uhse, der 1989 das Bundesverdienstkreuz verliehen wurde, das „Versandhaus Beate Uhse“ gegründet, das Kondome und Bücher zum Thema „Ehehygiene“ anbot. 1962 eröffnete sie in Flensburg den angeblich weltweit ersten erotischen Zubehörhandel, sprich Sexshop.

Dann kam die „sexuelle Revolution“ im Rahmen der Studentenbewegung von „1968“ ins rollen. Ihr Anliegen war es, sich von der „bigotten Prüderie“ der 1950er-Jahre zu befreien und durch diese sexuelle Befreiung eine gesellschaftliche Veränderung herbeizuführen. Durch die Unterdrückung von vitalen Trieben sahen viele 68er den Menschen in seiner Persönlichkeit deformiert und die Kontinuität autoritärer und gewalttätiger Strukturen gewährleistet.

Sie bewirkte eine Liberalisierung der diesbezüglichen Gesetze zwischen Mitte der 1960er und Mitte der 1970er Jahre, die eine sogenannte „Sexwelle“ in den Medien nach sich zog. Die Befürworter der „sexuellen Revolution“ waren darüber jedoch alles andere als glücklich, da sie das ursprüngliche Ziel, die „charakterliche Selbststeuerung des Menschen“ aus den Augen verlor und die freie Sexualität lediglich vermarktete.

Oswald Kolle produzierte 1968 mit „Das Wunder Liebe“ seinen ersten von insgesamt acht „Aufklärungsfilmen“, gefolgt von „Deine Frau, das unbekannte Wesen“ (1969), „Dein Mann, das unbekannte Wesen“ (1970), „Dein Kind, das unbekannte Wesen“ (1970) usw.. Für Opa und Oma als unbekannte Wesen interessierte er sich allerdings nicht mehr. Weltweit sahen rund 140 Millionen Menschen die Filme des als „Sexpapst“, „Liebesguru“ und „Orpheus des Unterleibs“ bezeichneten Filmemachers.

Das Thema Fortpflanzung war aus dem Dunkel von Scham- und Pflichtgefühl mit Lichtgeschwindigkeit in das Reich der Sinnlichkeit katapultiert worden. Der Sex trat ins Bewußtsein der Menschen, bei dem Fortpflanzung meist nur noch eine unerwünschte Nebenwirkung darstellt. Das Interesse an dieser Thematik war groß; und die Medien bedienten es ausgiebig. Die Grenzen zwischen Erotik und Pornografie, freier Liebe und Prostitution begannen zu verschwimmen.

Deutschland wurde von einer Welle billiger Sexfilmchen überrollt, die sich oft als aufklärerische „Reportagen“ tarnten. An erster Stelle ist hier der „Schulmädchen-Report“ zu nennen. Die 1970 in die Kino gekommene Verfilmung des im selben Jahr mit demselben Titel erschienenen Buches von Günther Hunold war dermaßen erfolgreich, dass bis 1980 noch zwölf Fortsetzungen produziert wurden.

Die Verfilmungen, übersetzt in 38 Sprachen, gelten mit 100 Millionen Zuschauern als bisher erfolgreichste deutsche Kinoproduktion. Der erste Teil wurde mit rund sechs Millionen Zuschauern einer der fünf erfolgreichsten deutschen Filme. Der große Erfolg der Serie lässt sich damit erklären, dass die Sexualität zu jener Zeit eine Art „terra incognita“ darstellte und große Neugier auf sexuelle Details herrschte. Die Report-Filme setzte sich daraufhin noch eine Weile fort mit Produktionen wie: Hausfrauen-Report, Lehrmädchen-Report, Tanzstunden-Report etc..

Unterdessen beeilte man sich in Politik und Pädagogik, das Feld der sexuellen Aufklärung nicht allein den Medien zu überlassen. Dabei war man tunlichst bemüht, die Enstehung des Lebens auf eine wissenschaftlich fundierte Faktenvermittlung biologischer Vorgänge zu beschränken und Sex und Erotik von dem Thema fernzuhalten.

Der Einband des ersten Sexualkunde-Altlas, der wie eine abstrakte psychedelische Malerei anmutet, die Ausstrahlung der Gesundheitsministerin Käte Strobel, Gründerin der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, und der apathische Gesichtsausdruck der neben ihr plazierten jungen Dame sprechen für sich. In diesem Lehrwerk war von Samenfäden und Eihülle, Periode und Konzeptionsoptimum oder der Wirkungsweise der innersekretorischen Drüsen die Rede. Lust, Liebe, Leidenschaft kamen in diesem Werk nicht vor oder mussten mit der Lupe gesucht werden.

Während sich also Lehrkräfte und Bürokraten mit dem peinlichen Stoff noch immer schwertaten, hatten wir Jugendlichen uns längst mittels der zuvor erwähnten Quellen schlaugemacht.

Ende der 80er Jahre landete die freie Liebe dann schließlich auch an den Ufern von Ludwigshafen an.

1989 macht das Haus „Sidari“ in der Warthstraße 6 als „Das Liebeshaus vom Bodensee“ Schlagzeilen in der Illustrierten „Neue Revue“.

Obwohl sich der Ort hätte freuen können, als „verträumte Kleinstadt“ bezeichnet zu werden und bundesweite Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, hielt sich die Begeisterung in Grenzen und führte zu kontroversen Diskussionen.

Auch dem Südkurier war die Geschichte eine Spalte wert.

Gemeinderat und Bürgermeister teilten die Sorgen vieler Einwohner,
aber sie verhielten sich zeitgemäß und gaben sich aufgeklärt und liberal.

Ja, ganz bestimmt sogar hatte die junge Generation recht,
die Angelegenheit nicht so ernst zu nehmen.

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