Plötzlich war sie da.
Wer sie in den Sandstein geritzt hat, weiß keiner genau. Ebenso wenig wann das war.
Wen sie verkörpert und aus welchem Grund sie ins Leben gerufen wurde, Fragezeichen.
Verdankt sie ihr Dasein einer künstlerischen Laune oder verfolgte ihr Schöpfer einen spirituellen Zweck?
Wegen ihrer aufrechten starren Körperhaltung, ihren markanten Brüsten und ihrem strahlenförmigen Diadem gleicht sie einer Naturgottheit. Wir wollen sie daher die „Göttin der Gießbachschlucht“ nennen.

Der Künstler wählte für sein Werk eine großflächige Stelle im oberen Bereich der Sandsteinwand, möglicherweise weil tiefer gelegene Stellen vom Gießbach über die Jahre ausgehöhlt worden waren. Vielleicht aber auch, um sie vor Vandalismus zu schützen. Wahrscheinlich musste er bei seiner Arbeit eine Leiter zu Hilfe nehmen.
Durch Hangrutsche und Ablagerungen des Gießbaches hat sich der Boden unter ihr inzwischen angehoben. Jetzt befindet sich die „Göttin der Gießbachschlucht“ auf Augenhöhe mit dem Fußvolk. Dies hat es einem wenig kunstfertigen Zeitgenossen ermöglicht, sich am Antlitz der Göttin zu schaffen zu machen, das wegen des weichen Materials wahrscheinlich bereits sehr verwittert war. Seither gleicht ihr Gesicht dem einer Echse.
Zur Zeit ihres Erscheinens war die Gießbachschlucht nur schwer zugänglich. Man kann daher annehmen, dass das Relief einem persönlichen spirituellen Bedürfnis diente und nicht als touristischen Attraktion gedacht war. Ob es sich dabei ursprünglich um einen christlichen oder einen anderen esoterischen Ritus gehandelt hat, bleibt im Dunkeln.



Die auffällige Körperhaltung mit den vor der Brust gefalteten Händen findet sich schon auf Reliefs aus dem 13. und 14. Jahrhundert, sowohl am Fuße des Himalayas in Nordindien und Nepal, als auch in der Bretagne in Frankreich.
Der Ort, an dem zwei Bachläufe aufeinander treffen, scheint manchen Menschen für kontemplative und meditative Zwecke noch immer willkommen zu sein. Darauf weisen Inschriften in der Felswand und die roten Grablichter auf einer Steinplatte zu Füßen der Figur hin. Früher konnte man dort auch einen jungen Mann bei Tai-Chi Übungen beobachten.

Die „Göttin der Gießbachschlucht“ unterscheidet sich in allem von der Madonna am Eingang der Marienschlucht auf der anderen Seeseite. Bei ihr kennt man Auftraggeber und Künstler. Sie wurde nicht Vorort in den Felsen geritzt, sondern in einer Werkstatt aus hartem Rapperswiler Sandstein gefertigt und dann in den Molassefels eingelassen. Ihr Erscheinen wurde gefeiert und sie erhielt vom Erzabt des Klosters Beuron ein christliche Weihe. An ihrer Bestimmung gibt es daher keine Zweifel: Sie soll die Marienschlucht und ihre Besucher vor Unheil zu bewahren.
Aber die geistigen Kräfte beider Figuren vermögen die Schluchten, denen sie zugeordnet sind, nicht immer vor den Naturgewalten zu beschützen und begehbar zu halten. Dazu braucht es menschliche Gehilfen mit technischem Geschick, die in der Marienschlucht viel Geld in die Hand nehmen und in der Gießbachschlucht oft Hand anlegen müssen.
Wurde der Schluchtweg vor dem 2. Weltkrieg noch vom damaligen Verschönerungsverein gepflegt, wozu der Schulleiter, der dem Verein vorstand, seine Schüler verpflichtete, versank er danach in der Bedeutungslosigkeit und geriet als Wanderweg in Vergessenheit. Seine „Wiedergeburt“ verdankt der Schluchtweg dem Engagement von Othmar Fritschi und Erwin Thum, die sich bis ins hohe Alter der Pflege der Wanderwege verschrieben hatten. Ihnen zu Ehren wird der Schluchtweg heute auch Fritschi-Thum-Weg genannt.
Bernhard „Benni“ Thum (links im Bild), der Sohn von Erwin Thum und Schwiegersohn von Othmar Fritschi führt die Arbeit seiner Vorväter fort. Er kann sich dabei auf die Unterstützung vieler tatkräftiger Mannen verlassen, die sich in einer Arbeitsgruppe, „Waldeslust“ genannt, zusammengeschlossen haben.
Schon viele Male und mit großem Aufwand setzten sie nach schweren Unwettern den Schluchtweg wieder in Stand und ermöglichten es dadurch den Verehrern der mysteriösen Göttin, ihr zu huldigen, oder die Schöpfung der sie umgebenden Natur an diesem wildromantischen Ort zu preisen.
Von seinem Vater erhielt „Benni“ Thum einst den Hinweis, dass es ein polnischer Erntehelfer gewesen sei, der in den 1990er Jahren das Werk geschaffen hätte.

