„Ludwigshafen ist ein unansehnliches, ja ein unwirtliches Dorf. Die Häuser darin sind dürftig und häßlich; es hat – wohl aus den Zeiten, da hier der Holzumschlag blühte – sehr viele Gasthäuser.“
Mit diesen Worten beschreibt Kurt Badt in den frühen 1920er Jahren diesen Ortsteil der heutigen Seeendgemeinde Bodman-Ludwigshafen. Zu finden im Buch »Mir bleibt die Stelle lieb, wo ich gelebt«, das von Manfred Bosch 2012 herausgegeben wurde und Badts Lebenserinnerungen enthält, die er in seinem englischen Exil niedergeschrieben hatte. So, jetzt wissen wir, wie Ludwigshafen vor vielen Jahren ausgesehen haben mag, bzw. wie es auf Kurt Badt gewirkt hat. Aber, wer weiß in Ludwigshafen noch, wer Kurt Badt war, der hier von 1924 bis 1933 lebte?
Kurt Badt (1890-1973) entstammt einer betuchten jüdischen Bankiersfamilie. Er siedelte 1924 von Berlin in die Bodenseeregion um, die ihm zur Herzens- und Seelenlandschaft wurde. In der Sommerhalde in „Kleinbodman“ ließ er sich nach eigenen Plänen und mit logistischer Unterstützung von Paul Weber zwischen Café Franke und Villa Lhotzky ein schmuckes Haus errichten. Das sich heute in toskanischem oker präsentierende Gebäude schmückte anfangs ein kräftiges Rot. Es ist vermutlich das Einzige, was im Ort an Badt erinnert, sofern man weiß, dass er es erbaut hat. Aber selbst das wird dem kollektiven Gedächtnis der Alteingesessenen entfallen sein.
Kurt Badt war Privatgelehrter, das heißt eine akademisch gebildete Person, die nicht an einer Hochschule oder einer anderen Forschungseinrichtung angestellt ist, deren Forschung auf privaten Motiven beruht und die ihre Studien und Publikationen mit eigenen Mitteln finanziert. Er beschäftigte sich mit Malerei und Kunstgeschichte und schrieb mehrere Bücher über berühmte Maler. Doch als Künstler blieb Kurt Badt bedeutungslos, als Kunsthistoriker war er umstritten. Und, da er nicht habilitiert war, blieb ihm auch eine universitäre Wirksamkeit dauerhaft versagt. Erst spät, im Alter von 80 Jahren, luden ihn 1970 befreundete Professoren der Universität Konstanz ein, um dort als Honorarprofessor Gastvorlesungen zu halten.
Da Badt einem jüdischen Elternhaus entstammte – er selbst bekannte sich zur römisch-katholischen Kirche – sah er sich angesichts des aufsteigenden Nazi-Regimes gezwungen, seine geliebte Wohnstatt am Seeende zu verkaufen. Er floh 1933 zunächst nach München und emigrierte 1937 ins Exil nach London. In Ludwigshafen schien er nur knapp einem rechtsradikalen Rollkommando entkommen zu sein. Nach dem Krieg kehrte Badt an den Bodensee zurück und lebte bis zu seinem Freitod im Jahre 1973 in Überlingen.
Die Beschreibung seiner frühesten Erinnerungen an die Bodenseeregion wird auf dem Einband des zuvor erwähnten Buches als „faszinierendes Porträt einer Landschaft und zugleich ein bewegendes Zeitdokument“ gerühmt, als „Darstellung seiner geographischen, historischen, zeitgeschichtlichen, kulturellen und sozialen Realität im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts – immer erfasst mit dem sicheren, quasi stereoskopischen Blick des Künstlers wie des Wissenschaftlers.“
Wenn dem so ist, dann steht es schlecht um das Ansehen unserer Heimatgemeinde zu Zeiten unserer Großeltern und Urgroßeltern im frühen 20. Jahrhundert. Das Bild, das Badt bei seiner Ankunft am Seeende von Bodman und Ludwigshafen und deren Bewohner zeichnet, könnte geringschätziger nicht sein. Positiv ausgedrückt könnte man auch sagen, die „wahre Schönheit der Dinge“, wie es im Titel eines Ausstellungskataloges über das Leben Kurt Badts heißt, scheint er dort anfangs nicht gefunden zu haben. Ebensowenig einen empathischen Zugang zu den einfachen Menschen vorort. Badts Ankunft am Seeende war ein enormer Kulturschock. Wie könnte es anders sein, wenn ein Mensch aus „hochherrschaftlichem“ Hause sich von der mondänen Metropole Berlin in die Provinz am Rande der Nation begibt und dort auf Menschen und Lebensumstände trifft, die er als arm, rückständig und unkultiviert empfindet.

Aber lassen wir Kurt Badt seine ersten Eindrücke von Bodman selbst widergeben:
„Rechts und links alte, unsaubere Fachwerk-Katen. Wenige Leute waren zu sehen, sie schienen schmutzig, verwahrlost, fremdartig. (…) Wir wurden von einer älteren Frau empfangen, die vor Schmutz starrte und uns abschreckend häßlich erschien. Sie führte uns durch einen kahlen Hausgang mit schmieriger Tapete, die kahle Treppe hinauf in unsere Zimmer, die zwar geräumig, aber mit den scheußlichsten Möbeln, Öldrucken, Nippes vom Jahrmarkt ausgestattet waren. Wir wagten fast nicht, uns auf die schäbigen Sessel und das Sofa zu setzen. (..) Später erschien der Sohn, ein Mann in den Dreißigern, schmutzig, verwahrlost, halb blöde; nach seinem Aussehen ein Arbeiter. So war unser Einzug in Bodman, und nur unsere Müdigkeit und die Menge der mitgeschleppten Koffer hinderten uns, sofort wieder abzureisen. (…) Ein Kaufladen wurde entdeckt, zu dem es von der Straße eine steile Treppe hinaufging. Überall war es gleich schmutzig und verwahrlost. Die Türen hingen in den Angeln, die Schwellen waren ausgetreten, die Tapeten zerlumpt, Farbe und Putz verdorben. Offenbar herrschte größte Armut. Das Einzige, was an die Verhältnisse erinnerte, aus denen wir kamen, war das elektrische Licht. Aber die Glasglocken an den Straßenlaternen waren blind und voller Spinnweben. (…)
Hinter dem Wohnhaus befand sich noch ein kleiner Ziegelbau, welcher eine Brennerei enthielt. Hier brannte der Sohn aus Zwetschgen und Äpfeln Schnaps. Es war das erste Mal, dass ich eine solche Einrichtung sah. Da der Mann sehr unsauber dabei zu Werke ging, war der Anblick geradezu ekelhaft. Halb verfaultes Obst wurde gemahlen, wobei es ganz braun wurde, dann gekocht und in besonderen Öfen destilliert. Der Raum schwamm von Wasser, und Obstreste lagen überall herum. Dazu roch es fürchterlich, süßlich und nach Alkohol. Von dort habe ich meinen Widerwillen gegen den Obstbrandwein. (…) Ich lernte bald, daß Most das Nationalgetränk der Gegend war, daß ungeheure Mengen davon konsumiert wurden, daß die Schädigung der Gesundheit bei der Bevölkerung enorm war. Jedermann machte selbst Most, hatte Most im Keller und trank zu jeder Mahlzeit Literkrüge voll Most. Auch zur Arbeit aufs Feld wurde Most in Steinkrügen mitgenommen, die man in der Erde vergrub, um sie kühl zu halten.“

Man sollte nicht annehmen, dass damals in unseren Dörfern alles so schrecklich war, wie Badt es beschreibt. Mit Sicherheit lässt sich nur sagen, dass er es so erlebte.
Mit den Jahren entdeckte Badt dann auch Positives in seiner neuen Wahlheimat und begegnete Menschen aus dem „einfachen Volk“, deren geistige und handwerkliche Fähigkeiten er wertschätzte und bewunderte. Die Knechte und Mägde zählten jedoch nicht zu diesem Personenkreis. Von ihnen schrieb er:
„Knechte sind starke Kerle, sehnig und von groben Knochen und immer hager von ihrer schweren Arbeit. (…) Der Umgang mit den Tieren formt ihr Wesen und ihre Sprache. (…) Daher ist die Sprache der Knechte rauh und laut und besteht nur aus wenigen Worten, und ihr Denken umfaßt nur wenige Gedanken. (…) Knechte und Mägde bilden den zurückgebliebensten Stand im Volk. Sie bilden noch nicht einmal einen Stand. (…) Sie bilden das notwendige Glied zwischen der menschlichen Gesellschaft und den Haustieren; (…) Durch diesen alltäglichen Umgang mit den Tieren ensteht in den Menschen eine Art tierische Schamlosigkeit, eine Roheit der Formen und eine Dumpfheit des Geistes. (…) Ich sage, die Knechte sind halberwachte Menschen. (…) Obwohl sie alle so stark sind, daß sie die Anstrengungen ihres Berufes und die Unbilden der Witterung kaum fühlen, können sie seine Genüsse doch nicht erleben. Sie sind zu stumpf sie aufzufassen. Die Dämmerung, die um ihren Geist gebreitet ist, hindert sie daran.“
Ein Kommentar zu dieser Einstellung erübrigt sich. Hätte Badt Gelegenheit gehabt, die Lebensgeschichten von Knechten und Mägden zu lesen, wie sie heutzutage in Buchhandlungen zu finden sind, hätte er sich dieser Äußerungen wegen vielleicht geschämt.