Ein Beitrag von Astrid und Mathias Kreibich
In der Seestraße 26 steht ein Haus, in dem man alt werden kann.
Und wirklich alt – denn die „Alte Dame“ feiert in diesem Jahr 2025 ihren 418-ten Geburtstag und hat sich dafür, über dem aufgemöbelten Korsett, ein neues Kleid angezogen. Ihr Haupt ließ sie neu richten und so glänzen die gewaschenen Dachziegel im Bodmanschen Licht, als gäbe es keinen Verschleiß zu beklagen. Dem aufmerksamen Betrachter entgeht dabei nicht, dass sie noch die Handspuren derer aufweisen, die sie einst vor Hunderten von Jahren geformt haben.
So trotzt sie den Gezeiten – die Alte Vogtei Bodman – und beweist uns, wie klug die Alten einst gebaut haben. Aus Holz, Stein und Lehm errichtet, ist sie ein Beispiel für Beharrlichkeit und nachhaltige Baukunst. Man konnte sie nicht wegschieben, wie so viele andere Fachwerkgeschwister am gleichen Ort.
Und dennoch nagte auch an ihrem Gefache der Zahn der Zeit: Am Pfingstsonntag 2019 fiel ein Stück davon zu Boden und die Bodmaner glaubten, nun sei es um sie geschehen. Ein Stützwerk, eiligst vom Technischen Hilfswerk der Ortsverbände Radolfzell und Stockach errichtet, war dabei nur ein kleines Pflaster, was von nun an die Nordfassade stützte, und jedem Vorübergehenden offenbarte, dass hier eine größere Instandsetzung von Nöten sei.

Schlüsselblumen
Erst nachdem die älteste Bewohnerin des Hauses, Frau Scherzinger, mit gut 96 Jahren das Haus verlassen hatte, konnte durch unseren Erwerb des Gebäudes eine denkmalgerechte Instandsetzung beginnen. Dazu musste zunächst eine Nachgründung vorgenommen werden, denn die „Alte Dame“ hatte sich in den vier Jahrhunderten ohne echtes Fundament fest in den lehmigen Untergrund gekrallt, um nicht in Richtung des nahen Torkelufers abzurutschen. Diese Anstrengung kostete sie immense Kraft, so dass sich im Laufe der Jahre sämtliche Balken, Decken und Böden verbogen und ihr gesamter Körper sich dem See zuneigte.
Als wir die „Alte Dame“ im Jahr 2021 an einem frühlingshaften Ostertag entdeckten, stand sie zusammengesunken in einem Meer voller sonnengelber Schlüsselblumen – und sprach uns an.
Was sie genau sagte, ist verflogen, doch war es bedeutsam genug, dass wir schon eine Woche später zurückkehrten – mit Schlüsseln in der Hand – und ihr Innerstes erforschten. Als wir sahen, dass sich hinter ihren Verkleidungen noch das Ursprüngliche verbarg, mussten wir nicht lange überlegen. Wir fassten Mut zur Grundsanierung – und setzen der „Alten Dame“ einen Buddha in die Stube, der fortan alle Baumaßnahmen mit Geduld und Glück begleiten sollte.


Verbotene Birnen
Eine Besonderheit dieses Hauses ist es, dass in vierhundert Jahren tatsächlich nur drei Besitzer den Schlüssel wechselten: 1607 wurde die Alte Vogtei vom Reichsritter Hans Wolfgang von Bodman erbaut, der für seinen Ortsvorstand einen repräsentativen Amtssitz errichten wollte. Im Gräflichen Urbar von 1757 findet sich die Eintragung des Grundstückes mit der Lagebuchnummer 124 – die heutige Seestraße 26. Wie lange und welcher Vogt hier als Vertreter des gräflichen Hauses gewirkt hat, ist nicht belegt. Seine Aufgaben umfassten die Verwaltung örtlicher Angelegenheiten und die Vertretung der Dorfbewohner gegenüber dem Grundherrn. Auch hatte er das nahe Seeufer im Blick – durch die Lage des Hauses über der Torkelbucht konnte er genau beobachten, wer sich über den See dem Ort näherte.
Die Vogtei blieb fast dreihundert Jahre im gräflichen Besitz, bis der Urgroßvater des heutigen Grafen Wilderich, Freiherr Franz von und zu Bodman, beschloss, das Anwesen gemeinsam mit anderen Häusern in Bodman zu verkaufen.

Der zweite Besitzer, Herman Weidele, erwarb das Haus 1893 und übertrug es seiner Tochter Maria Eva, die 1917 Karl Schirmeister aus Sipplingen heiratete. Aus überlieferten Fotos lässt sich rekonstruieren, dass die Familie Schirmeister bereits in den 1930er-Jahren Räume an den Fotografen Ernst Müller und seine Familie vermietete. Hier gab es ein Fotolabor und einen kleinen Verkaufsladen. Die Bilder zeigen den Fotografen im weißen Kittel, glücklich mit Frau und Kindern vor der Eingangstreppe des Hauses, neben einem üppigen Birnbaum. Seine Tochter, Gertrud Bohl (geb. Müller), wurde 1935 im ersten Stock des Hauses geboren und erinnert sich noch heute daran, dass man von den Birnen nicht essen durfte – und dass eines der Zimmer im Haus stets verschlossen blieb.
Der Mietvertrag endete schließlich 1953. Zwei Jahrzehnte später wurde die „Alte Dame“ innerhalb der Familie an die Enkelin Julia Schirmmeister vererbt, jedoch von ihrer Tante Liselotte Scherzinger mit Niesbrauchrecht bis zu ihrem Tod 2019 bewohnt. Das verschlossene Zimmer war die Werkstatt ihres Ehemanns Albert, einem Holzschnitzer aus dem Schwarzwald. Dort fertigte er Kuckucksuhren. Wir fanden noch einen silbernen Uhrzapfen, seine Werkzeuge und neben dem Ofenschacht das Gewerbeschild „Holzschnitzerei Scherzinger“. Nach seinem Tod lebte die Witwe über zwei Jahrzehnte allein im Haus – zuletzt wohl nur noch in der historischen Stube im Erdgeschoss, deren Kachelofen von 1820 bereits so schwer beschädigt war, dass die einst helle Bohlen-Balken-Decke inzwischen durchgehend verrußt war.
Rauten-Schmuckwerk
„Das markante Sichtfachwerkgebäude in der Seestraße 26 hat eine das Ortsbild prägende Wirkung und vermittelt durch seine repräsentative Ausdrucksweise, dass es sich keineswegs um ein klassisches Bauernhaus handelt, sondern eher eine öffentliche Funktion gehabt haben muss“, so oder ähnlich lautete der Befund des Heimatpflegers Christof Stadler bei seiner Erstbegehung. Die Alte Vogtei von Bodman war also ein Verwaltungsgebäude der Herrschaft und ist somit ein kulturhistorisch bedeutsames Zeugnis. Das niedrige Erdgeschoss mit seiner charakteristischen Holzdecke diente einst wohl als Kanzlei, deren Wände noch die ursprünglichen Täfer aufweisen und später die erste industriell gefertigte Rautentapete in „Berliner Blau“ trugen. Der marmorierte Kachelofen wurde inzwischen abgebaut, gereinigt und mit einer neuen Backkammer wieder aufgebaut.


Die einstige Seefassade mit ihrem Fensterschmuck in der Stube wurde nach 200 Jahren abgebrochen. Ersetzt wurde sie durch eine Steinmauer mit kleinen Fenstern. Um der „Alten Dame“ ihr ursprüngliches Gesicht wiederzugeben, wurde das historische Fensterband rekonstruiert. Nun schließt das inzwischen leinölgestrichene Rautenfachwerk der Nord- und Ostfassade 32 Fenster in seine Arme, die von weiteren 23 Lichtöffnungen auf der Ost- und Westfassade ergänzt werden.
Bei unserem ersten Besuch empfing uns im Obergeschoss eine ungewöhnlich breite Diele – wir rätselten, ob hier einst Schul- oder Amtsräume gewesen sein könnten. Die beiden angrenzenden Seezimmer wurden von der letzten Bewohnerin als Fremdenzimmer vermietet – mit dem Hinweis über dem Lichtschalter: „Rauchen nur außerhalb des Hauses“.
Das Dachgeschoss mit seinen zwei bauzeitlichen Nordkammern und deren originalen Lehm-Strick-Wänden ist ein architektonisches Kleinod. Noch heute erkennt man im Haselnussflechtwerk die Spuren geübter Handwerkerhände, die hier wahre Baukunst erschufen. Eine dieser Wände ist mit Rußspuren früher fehlender Schornsteine gezeichnet – wir nennen sie ehrfurchtsvoll unsere „Anselm-Kiefer-Wand“.


Vom Glück, eine Hummel zu sein
Seit unserem Erwerb im Jahre 2021, sind inzwischen vier weitere Jahre ins Land gezogen. Die geschickten Hände heutiger Handwerker – im Einklang mit dem Spürsinn eines Baumeisters – haben sich bedachtsam den kleinen und großen Wunden der „Alten Dame“ gewidmet. Sie haben gegraben, gerichtet, gehobelt, gelehmt, gehanft – und vor allem: geglückt und gehummelt.
Mit jedem Handgriff wurde die Alte Vogtei ein Stück weit erhoben. Jetzt steht sie wieder fest auf ihrem Grund – und Mutter Erde lässt ihre Wärme, heute genannt Geothermie, durch die frisch gekalkten Lehmwände fließen. Wir neigen unser Haupt vor ihrer Standhaftigkeit. Möge sie weitere vierhundert Jahre erblühen – und Geschichte erzählen.


Text: Astrid Kreibich/Historikerin
Bilder: Mathias Kreibich/Architekt
Anmerkung der Redakteure:
Besonderer Dank gilt Graf Wilderich von Bodman, Gertrud Buhl, Julia Schirmmeister, Martina und Michael Niehl, für die Gespräche, Bilder und Urkunden zum Haus.
Und den wunderbaren Menschen des Handwerks gilt vollste Hochachtung.