Ortsbegehung

Was spielt sich ab in der Erinnerung eines Schriftstellers, der in Ludwigshafen geboren und aufgewachsen ist, aber schon lange woanders lebt, wenn er an den Ort seiner Kindheit und Jugend zurückdenkt? Wie fasst er das Erinnerte in Worte? Nichts anderes kann das Ergebnis dieses Prozesses sein, als ein literarischer Text, der Gefundenes und Erfundenes zusammenbringt.

Gemeint ist Christof Hamann, geboren 1966 in Ludwigshafen, heute in Köln und in der Nähe von Heidelberg wohnhaft. In einigen seiner mehrfach ausgezeichneten Romanen kommt seine Verbundenheit mit dem Bodensee, dem Seeende und dessen Menschen zum Ausdruck. In seinem für die SeeEnd-Geschichte(n) verfassten Beitrag „Ortsbegehung“ sucht er in verdichteten Traumsequenzen Orte und Wege seiner frühen Heimat auf und verknüpft sie mit familiären Erlebnissen und persönlichen Empfindungen.

Ortsbegehung

von Christof Hamann

Bin ich dann wieder einmal am Seeende, dann weiß ich, was ich tue, es ist keine bewusste Entscheidung, es ist ein Schuhe wechseln, ein die Flasche Wasser einstecken, ein sich mit Sonnencreme einreiben, es ist ein nach dem Hund rufen, dem verstorbenen, der auch gleich aufspringt, es ist ein Losgehen wie sonst auch. Schritt folgt auf Schritt, den Fuchsweg nach hinten und die Wiesenstraße nach unten, und hinüber zum Friedhof, wo ich am Grab innehalte, das den Namen der Eltern trägt, und neben ihrem Grab die Gräber mit Namen, die ich kenne und die ich vergessen zu haben glaubte, aber ich weiß ja, man kann die Toten nicht vergessen, sondern die Toten vergessen uns. Ich halte inne, ich gieße und zupfe, ich grüße andere, die ihre Gräber besuchen, weil es sich gehört zu grüßen, und dann, nur noch ein Stück die Radolfzeller Straße hinab, nur einmal quer über die Gleise, nur diese wenigen Schritte noch.

Bin ich dann wieder einmal am Seeende, dann bleiben wir eine Weile am sogenannten Waschplatz, ich werfe einen Stock ins Wasser, der Hund jagt hinterher. Dass wir das Leben unserer Eltern nur unzureichend erfassen, sagt nichts über ihr Leben aus, nur über unser eigenes. Mein Vater ist auf einer Triumph, kein anderes Motorrad will ich ihm vermachen, von Wanne-Eickel in den Süden geflitzt, ich will die Kilometer zählen, die er zwischen sich und früher bringt, aber zu schnell sind sie verschluckt und vergessen. Nein, mein Vater lässt sich Zeit, tuckert durch die Orte im Hunsrück, findet die zwei Bauernhöfe nicht mehr, auf dem seine Eltern ausharrten, so lange es eben ging, bis sie die Arbeit ins Ruhrgebiet verschlug, er lässt sich die kurvigen Strecken im Schwarzwald nicht nehmen. Mein Vater ist auf dem Weg in seine Zukunft bis zum Tod, zu seiner Ausbildung zum Baustatiker, in der Lang-Schule in Stockach, wohnen wird er in der Nähe, am Seeende, in einem handtuchgroßen Zimmer im Zollamt. Ich bin bei ihm, auf meine Frage, wie es ihm gehe, antwortet er ausführlich, aber der Fahrtwind, der Motorradlärm, meine Unachtsamkeit verhindern, dass ich ihn verstehe.

Bin ich dann wieder einmal am Seeende, dann wende ich mich nach links, am Yachthafen, Bahnhof, Hotel Adler vorbei, hinüber zur Hafenmauer, und zum Zollamt, in der Zeit vor meiner Zeit, ich gehe in die Zeit hinein oder in den Sommer, ich sehe den Säntis oder sehe ihn nicht, ich sehe bis zur Insel Mainau, wo sie morgen, am 15. Juli 1955, an keiner Kundgebung teilnehmen werden. Alle Nationen müssen zu der Entscheidung kommen, freiwillig auf die Gewalt als letztes Mittel der Politik zu verzichten. Sind sie dazu nicht bereit, so werden sie aufhören, zu existieren. Ich erinnere mich an den Hund, der mich begleitet, was soll das Leben sein ohne jemand, der einen begleitet. Es ist eine heitere Erinnerung, so und so ist das also gewesen, da also saß der Vater, nah am Ufer, da sitzt er, so und so. Ich weiß, er wartet auf meine Mutter, sie wird aus der Tür des Zollamts treten, das ist sicher, denn sie sind verabredet. Weiter oben im Dorf, im Löwen, wird getanzt werden, und die beiden werden dabei sein, er, der Lang-Schüler, heller Anzug, weißes Hemd, Krawatte, sie, die am See Aufgewachsene, die studieren möchte, aber das darf nur der Bruder, ein weißes Kleid mit Blumen darauf trägt sie. Sie sind auf dem Sprung, sich zu amüsieren, ich warte, bis sie sich zu ihm setzt und den Arm um ihn legt, da passt kein Blatt dazwischen, sie achten nicht auf mich, der Fragen an sie hat, der sie fotografiert, nicht auf den Hund, der lichthelle Nachmittag ist ihnen egal, der einlädt, hinaus auf die Hafenmauer zu gehen und weiter, was ich schließlich tue. Der Hund eilt mir voraus, er kennt den Weg, und am Ende der Hafenmauer springen wir, tauchen wir ein in das Schatzhaus der Erinnerungen, das Unterwassermuseum, das Schiffswracks ebenso beherbergt wie Bomben aus dem Zweiten Weltkrieg, Autoreifen oder Wäschetrommeln, vorbei an einem Wache haltenden, misstrauischen Hecht, er sieht ramponiert aus und ehrwürdig. Hier könnten wir verweilen, ein wenig den Trödel bestaunen, natürlich, es kann Ärger geben, der Hecht will nicht immer Wache halten, aber dann soll er sich zwischendurch an einen Schwarm Felchen schmiegen, alles Blödsinn, das Leben ist kein Wunschkonzert, wir müssen wieder nach oben. Als wir zurück sind, ist es Nacht geworden, mild und warm, die Musik vom Löwen ist bis hierher zu hören, aber sehr leise für den Hund und mich, die wir Wasser in den Ohren haben, wie aus einem anderen Leben. Vielleicht Zarah Leander, vielleicht „Es wird einmal ein Wunder geschehn“, und alle singen mit.

Bin ich dann wieder einmal am Seeende, gehe ich am Konzertpavillon vorbei, den Schlössleweg hinauf, durch die Rathausstraße hinüber zur Radolfzeller Straße, dort leine ich den Hund an, gerade noch rechtzeitig, denn schon brausen meine Eltern auf der Triumph vorbei. Wir hinterher, wir fliegen an Bodman vorbei, den Dettelbach hinauf, schon liegen Liggeringen und Langenrain hinter uns, von Dettingen aus geht es wieder an den See, und kaum haben wir alle einmal Luft geholt, biegen wir nach links ab auf die Insel Mainau. Wir spazieren mit vielen anderen zwischen Taglilien und Sonnenhüten, wir bewundern die weißen Blüten der Immergrünen Magnolie, die rosa Pinselblüten der Seidenakazien, das ganze bunte Spiel. Meine Eltern wundern sich über den Menschenauflauf am Schloss, die viele Presse, aber sie sind wegen der Blüten hier, wir sehen uns satt. Es hätte auch anders sein können. Es ist die Idee meiner Mutter, das weiß ich, ohne es zu wissen, bei der heute weitgehend vergessenen Kundgebung von Nobelpreisträgern gegen Atomwaffen mit dabei zu sein. Adenauer wird toben, sage ich, weil sie ihm widersprechen, sie trauen sich was, sagt meine Mutter, mein Vater nickt, und vielleicht ist es dieser kleine Moment gewesen, der sie für eine Zeit vor meiner Zeit abbrachte von ihrem Weg. Ich mache ein Foto von den beiden, wie sie neben dem Motorrad stehen, und ich meine, Trotz in ihren Mienen zu erkennen, dann biegen sie, nachdem sie die Insel verlassen haben, in die falsche Richtung ab. Ich sehe, wie sie sich erst langsam, dann immer schneller werdend von mir entfernen und schließlich, ohne sich noch einmal nach mir umzusehen, verschwinden. Wenn nur das nie Geschehene vor euch liegen würde.

Bin ich dann wieder einmal am Seeende, gehe ich den Schlössleweg hinauf zur Überlinger Straße, aber nur, um bald abzubiegen in Richtung Blütenweg und von da ins Bettental. Der Hund ist alt geworden, denke ich, hinterm Grillplatz geht es in den Wald hinein, irgendwann gelangen wir, über die Schoren- oder die Haldenhofstraße, wieder an dem Haus an, von dem in diesem Sommer noch niemand etwas wusste. Müde lege ich mich aufs Sofa im Wohnzimmer, der tote Hund, ebenfalls erschöpft, ist auf einem Foto abgebildet, mit herabhängender Zunge, der Vater auf einem anderen, nahe am Wasser sitzt er. Das Foto könnte auf der Mainau entstanden sein, vielleicht, und auf einem weiteren befindet sich der Vater neben seinem Motorrad, verwegen sieht er aus, wie James Dean in „Denn sie wissen nicht, was sie tun“. Die Zukunft würde eine Welt sein, in der meine Eltern aufeinander zugingen, nur um gleich wieder auseinander zu driften wie Nord- und Südpol eines Magnets, sie in die Küche oder hinaus in den Garten, er ins Wohnzimmer oder zur Arbeit oder weiter weg wohin. Sie wird vergessen, dass es schöner ist, ihn zu lieben als ihn nicht zu lieben, und er wird es ebenfalls vergessen. Ich raffe mich auf, suche meine Siebensachen zusammen, verlasse die Wohnung mit den Fotos, schließe die Tür hinter mir, Schritt folgt auf Schritt, es ist noch taghell, Zeit genug also, um weiterzugehen.

Bei den kursiv gesetzten Passagen handelt es sich um leicht abgewandelte Zitate von Nadja Küchenmeister („Der große Wagen“, 2025) und Richard Ford („Zwischen ihnen“, 2017).

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