V.I.V.O – Einkaufsrevolution am SeeEnde

Das Einkaufen hat sich die letzten Jahrzehnte komplett gewandelt. Heutzutage rollen Einkaufswagen im Eiltempo durch die prall gefüllten Regalreihen. Mit gezielten Handgriffen wird nach der Einkaufsbeute gelangt, denn man weiß (Frau natürlich auch), wo die gewünschten Stücke stehen und rein damit in den sich füllenden Einkaufswagen. An einigen Stellen sieht man verstohlene Blicke, wenn die Ware mehrmals gewendet wird, damit ja das Beste davon in die Tüte rollt. Jetzt Tempo-Tempo, um ja nichts an einen Wettbewerber zu verlieren. Am Schluss ein kurzer Blick auf die Einkaufsliste, nichts vergessen – alles drin, dann auf die richtige Kassenreihe lauern, die ca. 10 Sekunden schneller durchläuft, aber gefühlt einen ewig langen zeitlichen Vorsprung bringt. Im Stechschritt zum Auto, ausladen, einladen, Einkaufswagen zurück und erleichtert dem Parkplatz entschwinden.

Das war nicht immer so. Bis in die 1960er Jahre hinein war das Prinzip der Selbstbedienung in Deutschland nahezu unbekannt, Supermärkte gab es nicht. Die Idee kam aus den USA, nämlich von New York aus einer alten Autowerkstatt – und verbreitete sich auch bei uns sehr schnell. Das Motto des ersten Discounters war: Waren hoch stapeln und zum niedrigen Preis verkaufen. Alles konnte bequem mit einem (Groß-) Einkauf erledigt werden.

In Deutschland war das zu dieser Zeit undenkbar. Für verschiedene Produkte mussten die Kunden in verschiedene Geschäfte: Wurst gab es beim Metzger, Brot beim Bäcker, andere Lebensmittel und Tagesprodukte im Tante-Emma-Laden. Die gewünschten Produkte wurden für jeden Kunden einzeln abgewogen, verpackt und abgerechnet. An den Theken bildeten sich oft lange Schlangen, der Einkauf konnte dauern.

Dafür war es aber auch ein soziales Ereignis: Bei Tante Emma kauften die Kunden nicht nur Käse, Kaffee und Konserven, sie hielten auch ein Schwätzchen und tauschten Neuigkeiten mit dem Ladenbesitzer und den Nachbarn aus. Viele nahmen sich dafür Zeit und Muße, manchmal wurde minutenlang vor oder nach dem Einkauf persönlich „getwittert“ (zwitschern, ein Schwätzchen halten).

In Deutschland begann der Siegeszug der Supermärkte, nach amerikanischem Vorbild, 1957 in Köln.
Doch nicht nur in Köln, denn fast zeitgleich wurde auch am SeeEnde ein „Supermärktle“ nach dem gleichen Prinzip eröffnet. Das war ein V.I.V.O (Vereinigte Internationale Verkaufsorganisation) an der Hauptstraße, mit einem vielschichtigen Angebot. Nicht ganz ohne Grund, denn es gab eine Achse zwischen Köln und Ludwigshafen, die das Einzelhandelsgeschäft hier am Ort bleibend prägen sollte.

Die Mutter von Hanns Honstetter, seinerzeit Generaldirektor der Blendax-Werke, betrieb einen kleinen Kolonialwaren-Laden an der Hauptstraße, direkt an der großen Kreuzung. Oben wohnen, unten im eigenen Haus Waren verkaufen, war damals eine übliche Praxis. Anfang der 1950er übergab sie den Laden an „Baumann Lebensmittel“ aus Radolfzell. Die Leitung der Filiale in Ludwigshafen übernahm Eugen Stadelhofer. Und hier beginnt der eigentliche Kern dieser Geschichte.
Eugen Stadelhofer war nicht nur ein findiger Geschäftsmann, sondern auch der Onkel von Edmund Knape (umgangssprachlich Edi). Dieser überzeugte Edi, an den Bodensee zu kommen, welcher vorher durch die Nachkriegswirrungen von Ost-Berlin nach West-Berlin und schließlich über den Schwarzwald nach Ludwigshafen kam.
Nach seinem Gymnasialabschluss am Rheingau-Gymnasium Brandenburg, besuchte er 1951 die höhere Handelsschule in Freiburg und machte danach eine zweijährige Ausbildung im Lebensmittelbetrieb seines Onkels – es folgte der Gesellenbrief an der IHK Konstanz. Dieser kaufmännische Weg war durch eine Zukunftsperspektive vorgezeichnet, die ihm sein Onkel aufgezeigt und zugesagt hatte. Eugen Stadelhofer plante, den Betrieb an Edi weiterzugeben, sobald er alle Prüfungen hinter sich hatte.

Der erste Selbstbedienungsladen in Ludwigshafen, mit Inhaber Edmund Knape an der Kasse

Bereits im Jahre 1954 wurde Edi Inhaber des Lebensmittelgeschäftes an der Hauptstraße im Haus „Honstetter“. Es begann alles in Form eines klassischen „Tante Emma“ Ladens, mit ca. 45 qm Fläche. Die Ware – Mehl, Zucker, Salz, Essig, Öl, Gewürze, Kräuter, Schokolade, Bonbons, etc. wurde über die Ladentheke fein säuberlich, individuell für den Kunden, in Tüten oder Gläser gewogen und verpackt.

Wie erwähnt, begann Ende der 1956er der Trend zum Supermarkt. Informiert und getrieben durch seinen Verpächter Hanns Honstetter baute Edi, gemeinsam mit seiner Frau Lotte, den bestehenden Laden um. Aus dem „Tante-Emma“ Laden wurde der erste V.I.V.O „Selbstbedienungsladen“ in der ganzen Region. Anfänglich bedienten sich die Kunden etwas unsicher aus den Regalen, da sie nicht so recht wussten, ob das Geld am Ende an der Kasse auch reichen würde. Am „Bunten Abend“ trug es Edi den Spruch ein: „Wer bei V.I.V.O zum Einkaufen geht, mitten in den Salaten steht“. Das Gefühl und die Akzeptanz für den Supermarkt entwickelten sich aber schnell.

Der hell beleuchtete VIVO an der Hauptstraße

Doch Hanns Honstetter dachte größer, beeinflusst durch seine Tätigkeit als Generaldirektor und der Sicht auf die städtischen Entwicklungen im Ruhrgebiet. Er kaufte 1965 das „Alte Rathaus“, welches im Folgejahr abgerissen wurde und ein Neubau mit einer deutlich größeren Supermarktfläche entstand. Edi investierte in eine moderne Ladeneinrichtung und auch das Angebot zeigte eine deutlich größere Bandbreite. Ab 1967 war „V.I.V.O – dem Haushalt zuliebe“ das erste Lebensmittelgeschäft am Platz. Freilich war nicht jeder davon begeistert, denn entlang der „Einkaufsmeile“ – von der Radolfzeller Straße kommend, über die Hauptstraße und Stockacher Straße fortführend, gab es viele alt-eingesessene Läden, die den neuen Supermarkt als neumodische Konkurrenz sahen.

Links der alte VIVO-Standort, später Peter Büsselmann (Drogerie, Photo, etc.) und neuer VIVO-Standort etwas weiter oben

Die Entwicklung war nicht aufzuhalten. Die Supermärkte entfalteten sich in den Großstädten und in der Umgebung rasend schnell und Kunden wollten den Vorteil erleben, des 1mal Hinfahrens, alles bekommen, ganz ohne Parkplatzprobleme. Über 10 Jahre gestaltete sich Angebot und Nachfrage sehr gut bei V.I.V.O und folgte der allgemeinen Dorfentwicklung mit steigender Einwohnerzahl. Im Jahre 1979 begannen neue Verhandlungen über den zukünftigen Pachtvertrag. Nicht ganz überraschend orientierten sich die neuen Klauseln und Steigerungen der Pachtkosten zunehmend an Großstadtverhältnissen, wie sie der Verpächter eben kannte. Aufgrund der stark wachsenden Konkurrenz von ALDI, REWE, EDEKA, LIDL und Co. und der steigenden Pachtkosten, entschied sich Edi, aus der Branche auszusteigen. Die Verhandlungen über die bestehende Supermarktfläche fand seine Fortführung mit EDEKA. Nach einigen Betreiber- und einem Standortwechsel ist EDEKA weiterhin ein florierender Supermarkt in der Doppelgemeinde und darüber hinaus. Wie so häufig, sind die Anfänge einer Erfolgsgeschichte in Vergessenheit geraten. Ohne die Ausdauer und glückliche Hand von Edmund Knape, hätte das Ganze auch völlig anders laufen können.

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Ein vielseitiges Naturell

Nicht nur im kaufmännischen Gewerbe hat sich Edi engagiert und kräftig mitgestaltet. Mit seinen leidenschaftlichen Aktivitäten beim Sportverein Ludwigshafen (SVL), mit seinen unvergleichlichen Charakterrollen unzähliger Theaterstücke (Maygas-Theater), als unverzichtbare Größe an bunten Abenden und als Mitglied des Gemeinderates hat er sich Hochachtung, Respekt und Freundschaft ehrlich verdient. Sein Wechsel von Berlin ans SeeEnde war für viele von uns einfach „knorke“*.

*) Die Erläuterung des Begriffs „knorke“ findet sich im bereits veröffentlichen Beitrag „Knorkes Misere“

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