Am Ende noch in größter Gefahr

Die letzten Kriegtage am Seeende

Auf dem Friedhof von Ludwigshafen sind Namenstafeln und Grabsteine zu finden, bei denen die allgemeine Frist für die Ruhezeit keine Anwendung finden. Der Grund: Es sind nicht allein Stätten, an denen Angehörige ihrer Verstorbenen gedenken, sondern ebenso Orte, die uns Allen als Mahnmale für die Schrecken des Krieges dienen. Kriegsgeschichten und die damit verbundenen Schicksale verjähren nicht. Wenn sie recht gehört und nicht vertuscht werden, helfen sie nachfolgenden Generationen Lehren aus den Fehlern der Vergangenheit zu ziehen, um diese nicht zu wiederholen. Sie erinnern an Schmerz und Leid, aber auch an das couragierte Handeln mutiger Bürger. Die Erinnerung ist ein „zentraler Baustein für Versöhnung“, wie es Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am 25. Jahrestag des Massakers von Srebrenica ausgedrückt hat.

Aus keinem anderen Grund und ohne die Absicht, alte Wunden zu öffnen oder mit dem Finger auf andere zu zeigen, sollen hier aus aktuellem Anlass die Ereignisse der letzten Kriegstage in Ludwigshafen geschildert werden. Denn am 24. April 1945 endete mit dem Einmarsch der französischen Armee der Zweite Weltkrieg für die Bürger von Bodman-Ludwigshafen. Bis zum endgültigen Zusammenbruch der Nazi-Diktatur durch die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht sollte es hingegen noch zwei weitere Wochen bis zum 8. Mai dauern.

In den letzten Kriegstagen spielten sich in Ludwigshafen die wohl turbulentesten, chaotischsten und lebensgefährlichsten Szenen des Zweiten Weltkrieges ab. Die Gefahr ging hierbei weniger von den „feindlichen“ Soldaten aus, als von den hitlertreuen nationalsozialistischen Fanatikern und Kampfeinheiten der SS-Unterführerschule, die in Radolfzell stationiert war. Sie zwangen die Bevölkerung zum Widerstand, um sich für den Rückzug in eine utopische „Alpenfestung“ oder andere Fluchtwege möglichst lange den Rücken frei zuhalten.

Im Vergleich zu dem offenen, lichtdurchfluteten Bürgermeisterbüro im heutigen Rathaus, mutet das Amtszimmer aus der Zeit des Nationalsozialismus wie ein finsterer Gral an. Adolf Hitler und Hanns Ludin wurden am 24. März 1933 zu Ehrenbürgern von Ludwigshafen ernannt, also -zufällig oder gewollt- am selben Tag, an dem das Ermächtigungsgesetz in Kraft getreten ist, durch das die gesetzgebende Gewalt faktisch vollständig auf Adolf Hitler übertragen wurde. Es war die Grundlage zur Aufhebung der Gewaltenteilung und ermöglichte alle darauf folgenden Maßnahmen zur Festigung der nationalsozialistischen Diktatur. Nach dem Krieg hatte man offenbar wenig Lust, sich mit den beiden weiterhin zu beschäftigen, weswegen dieser Umstand in Vergessenheit geraten war. Erst sehr spät ist durch eine mehr oder weniger zufällige Recherche die Sache wieder ins Bewußtsein der Gemeinderäte getreten, die daraufhin, ohne zu zögern, am 15.01.2019 die Aberkennung der Ehrenbürgerrechte in mehreren Fällen beschlossen.

Die Bevölkerung war gespalten. 

Welche Entscheidung die richtige sein würde, war nicht abzuschätzen und in jedem Fall mit vollem Risiko verbunden. Sich den Anweisungen der SS-Angehörigen zu widersetzen, konnte, wie im Falle des Bürgermeisters von Wahlwies, die sofortige Exekution zur Folge haben. Den Vorstoß der französischen Truppen aufhalten zu wollen, hätte zur Zerstörung des ganzen Dorfes führen können. Daher bauten einige der Bürger von Ludwigshafen die Panzersperren am Ortseingang ab, während andere sie unter Zwang wieder aufrichteten.

Was sich im Einzelnen abgespielt und wie die Bevölkerung das Verhalten der linientreuen Ortsvorsteher empfunden hat, wird eindringlich in den folgenden Zeitzeugenberichten geschildert.

Fünf Menschen wurden die letzten Kriegstage in Ludwigshafen zum Verhängnis. Das Ende vor Augen fielen sie im letzten Moment den Kriegswirren zum Opfer.

Ihre Grabsteine erinnern noch heute an ihre schrecklichen Schicksale.

Tod auf der Zielgeraden – Thomas Rieger und Alois Rosseger

Der Grenadier Thomas Rieger und der Luftwaffen-Gefreite Alois Rosegger wurden allem Anschein nach Opfer eines Gewaltverbrechens durch Angehörige der Waffen-SS in Anwesenheit von Mitgliedern des Volkssturms. Ihre sterblichen Überreste wurden in der Nähe des Holders gefunden, wo sich auch Panzersperren befanden. Möglicherweise handelte es sich bei ihnen um zwei aus amerikanischer Gefangenschaft geflohene Wehrmachtsoldaten, die sich auf dem Weg aus dem Raum Darmstadt zu einer nahen Verwandten in Vorarlberg befanden. Die Waffen-SS war immer auf der Suche nach „Deserteuren“, die sie noch an Ort und Stelle exekutierte. Über den Zeitpunkt und die Umstände ihres Todes gibt es seitens der damaligen Gemeindeverwaltung unter Bürgermeister Klingler höchst widersprüchliche und zweifelhafte Angaben. Das ließ den Historiker Elmar Wiedeking zu der Überzeugung gelangen, dass das Geschehen, aus welchen Gründen auch immer, vertuscht und verschleiert werden sollte. Sei es, um Repressalien seitens der französischen Besatzer zu verhindern, sei es, um Ludwigshäfler Bürger zu schützen oder das Ansehen der Gemeinde nicht zu gefährden.

Tod durch heroische Einfältigkeit – SS-Soldat Feyerabend

Ein zurückgebliebener SS-Soldat schleuderte vom Anwesen gegenüber der Mosterei Sinner eine Handgranate in Richtung der eben eingefahrenen und in der Radolfzellerstraße zum Stehen gekommenen französischen Panzer in der wahnwitzigen Hoffnung, ihren Vormarsch dadurch stoppen zu können. Der Sprengsatz richtete kaum Schaden an, brachte dem jungen ca. 20-jährigen Soldaten aber den Tod, denn die französischen Soldaten stürmten sofort das Gelände und erschossen ihn. Seine Identität wurde nie mit letzter Sicherheit geklärt. Auf dem Standesamt in Ludwigshafen ist auch keine Sterbeurkunde zu finden. Aber aufgrund von Zeugenaussagen und Plausibilitätserklärungen könnte es sich um einen gewissen Feyerabend aus Thüringen gehandelt haben, der Ausbilder in der SS-Unterführerschule von Radolzell war.

Tod aus Versehen – Mathilde Waag-Brassel

Frau Mathilde Waag-Brassel, die Ehefrau des evangelischen Pfarrers i.R., Wilhelm Waag, fand den Tod, weil sie, wie man sagt, zur falschen Zeit am falschen Ort war. Bei der Einnahme des Ortes kam es auch am Ortseingang in der Stockacherstraße zu einem kurzen Schusswechsel zwischen den französischen Soldaten und Angehörigen der SS, die sich in einem dortigen Schützengraben versteckt hielten. Dabei wurde sie in der Nähe ihres Hauses durch eine Kugel so schwer verletzt, dass sie tags darauf starb.

Tod aus menschenverachtendem  Fanatismus – Pieter den Dunnen

Sechs Zwangsarbeiter aus den Niederlanden, die sich von Innsbruck kommend auf dem Rückweg in ihre Heimat befanden, wurden direkt bei ihrer Ankunft in Ludwigshafen von der Familie Franz Strobel, dem damaligen Gemeinderechner, in Obhut genommen. Im Dorf hielten sich zu diesem Zeitpunkt viele Soldaten der Waffen-SS auf, die sowohl für die Fremden, als auch für die sie beschützende Familie eine ernste Bedrohung darstellten.
Als sich Pieter den Dunnen am 23. April aufmachte, um eine Packung Haferflocken für einen Brei zu kaufen, wurde er auf der Straße von einem SS-Unterscharführer regelrecht hingerichtet, weil er seinen Personalausweis nicht bei sich hatte. Da der Täter im Ort wohnhaft und mit der Tochter einer angesehenen Ludwigshäfler Familie verheiratet war, konnte die französische Militärpolizei, die für die Ermittlung bei Straftaten zuständig war, trotz der Verschwiegenheit der Einwohner seine Identität feststellen. Bereits drei Tage später wurde er von französischen Soldaten am Mooshof aufgegriffen und erschossen. Pieter den Dunnen wurde zunächst auf dem Friedhof von Ludwigshafen bestattet und später, Anfang der 1950er Jahre, auf das niederländische Ehrengrabfeld in Frankfurt-Oberrad umgebettet.

Die Willkommenskultur der Familie Strobel hat zu einer bleibenden Freundschaft geführt. Einer der sechs jungen Holländer kam nach dem Krieg mit seiner ganzen Familie an die vierzig Mal zur Familie Strobel zurück, um dort Ferien zu machen.

Außer den „Scharfmachern“ gab es also auch Menschen in der Gemeinde, die sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten und der Größe ihres Mutes gegen die noch herrschende Ideologie und ihre Verordnungen stellten, die eigene Lebensgefahr außer Acht lassend, wie das Beispiel der Familie Franz und Luise Strobel zeigt.

Beginn einer neuen Ära

Aufgrund eines Vorschlags verschiedener Bürger und der im Dorf lebenden serbischen Kriegsgefangenen stimmte der französische Ortskommandant der Ernennung von Werner Mollweide als erster Bürgermeister und Viktor Lindenmayer als dessen Stellvertreter zu. Josef Stoffel wurde als Ratsschreiber bestellt und Ignaz Specht und Stefan Seeberger als Gemeinderäte. Hermann Sulger, Leopold Ill, Josef Mayer und Eugen Lindenmayer kamen wenig später ergänzend hinzu.
Die erste Gemeinderatssitzung fand bereits 3 Wochen nach der Befreiung statt, am 15. Mai 1945, und behandelte überwiegend den Umgang mit den Hinterlassenschaften des ehemaligen Ortsvorstehers und seiner NS-Funktionäre sowie mit anderen Restbeständen des Krieges.

Im Ortsteil Ludwigshafen wird der Opfer des Zweiten Weltkrieges mit Tontafeln an der inneren Friedhofsmauer und einer Gedenktafel gedacht. Der Erinnerung an die Kriegstoten des Ersten Weltkrieges dient eine Christus-Statue an der Katholischen Kirche.

Im Ortsteil Bodman wurde den Opfern beider Weltkriege eigens eine Kapelle errichtet; ebenso rufen privat gestiftete Flurkreuze in der Nähe des Wasserreservoirs dazu auf, Frieden zu bewahren.

Warum in Deutschland das Ende der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft, der 8. Mai 1945 nie zu einem nationalen Gedenktag oder gar Feiertag erklärt wurde, muss nachdenklich stimmen. Gefordert wurde es mehrfach von namhaften Vertretern unserer Gesellschaft. Andere europäischen Länder sind diesen Schritt gegangen.
War es denn nicht auch die „Stunde Null“ eines inzwischen lange währenden Friedens; die Geburtsstunde unserer freiheitlich demokratischen Grundordnung, auf die wir alle so stolz sind!

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