Die Nachtfrau und der Mann mit dem Sack – So ging Erziehung früher

Als die Alten noch jung waren, galten für Kinder im wesentlichen sechs Gebote: Nicht stehlen. Nicht lügen. Den Älteren gehorchen. Pfarrer, Lehrer und Schultes grüßen. Am Sonntag in der Kirche keinen Blödsinn machen. Und beim letzten Glockenschlag des Betzeitläutens zu Hause sein.

Über Zäune zu klettern, Fensterscheiben alter Schuppen und Hühnerställe einzuschmeißen, dem Schulleiter ins Harmonium zu pinkeln, mit dem Gewehr auf die Rathausglocke und die Schweinsblasen am Narrenbaum zu schießen oder der Oma vor dem Schlafengehen Brausetabletten in den Botschamper (Nachttopf) zu schmuggeln, das alles waren im Verhaltenskodex eines Spitzbuben keine expliziten Verbote. Und, was nicht ausdrücklich verboten war, konnte man mal auszuprobieren. Wir hatten ja berühmte Vorbilder und wir waren gewarnt, wie alles enden konnte, wenn man es übertrieb.

Wenn man dann doch einmal eine unsichtbare Grenze überschritten hatte, dann „setzte es was“. (Sofern man erwischt wurde.) Dieses „was“ war je nach Familienkultur sehr unterschiedlich. Es konnte ohne körperliche Züchtigung, nur mit Ermahnungen, Hausarrest, Arbeitsdienst etc. relativ glimpflich abgehen, oder aber dramatisch enden mit dem Einsatz von Holzstock, Hagenschwanz (Ochsenziemer), Kochlöffel, Teppichklopfer, Kleiderbügel, Lederriemen oder einem anderen Schlagwerkzeug in Reichweite. Natürlich standen die erzieherischen Konsequenzen meist im Verhältnis zur Schwere des Vergehens. Sie waren aber auch abhängig von der aktuellen Gemütslage und körperlichen Tagesform der Eltern und nicht zuletzt von der Beziehung, in der ein Geschädigter zur Familie stand. Handelte es sich um einen guten Freund, war das Strafmaß ungleich höher, als wenn ein Mitmensch betroffen war, den man nicht so gut „verbutzen“ (leiden) konnte.

Es soll in diesem Zusammenhang vorgekommen sein, dass ein Ziehvater seinem Zögling, der sich gerade noch vor dem wütend hinter ihm her rennenden Nachbarn ins Haus retten konnte, tobend hinterher brüllte: „Waart nu Birschle, dir zôg is gli!“ („Warte nur Bürschchen, Dir werd‘ ich’s gleich zeigen.“) Wonach der Betroffene zufrieden die Verfolgung abbrach und alles Weitere dem Erziehungsberechtigten überließ. Denn er vertraute auf dessen harte Hand, für die er bekannt war. Als der Bursche im Haus dann aber dem Vater gegenüberstand in Erwartung schmerzhafter Ereignisse, tätschelte ihm dieser die Schulter und meinte mit einem verschmitzten Lächeln auf den Lippen: „Dees häsch guët gmacht, Biëble!“ („Gut gemacht, Kleiner!“) Es muss an dieser Stelle unbedingt erwähnt werden, dass trotz dieser pädagogisch eher fragwürdigen Vorgehensweise aus dem Jungen später kein „Hääsluser“, sondern ein beruflich erfolgreicher und in der Bürgerschaft allseits beliebter Häfler wurde. Aus Datenschutzgründen müssen Angaben zu den beteiligten Person allerdings unterbleiben. 😉

Leider dachten manche Väter und Mütter bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts, dass ohne Prügel aus Jungen keine richtigen Männer und anständigen Bürger würden. Zuschlagen durfte im tolerierten Maße jeder, der seine Ehre oder sein Eigentum verletzt sah oder glaubte, eine erzieherische Maßnahme durchführen zu müssen. Das ausdrücklich bestehende väterliche Züchtigungsrecht wurde im Zuge der Gleichberechtigung durch eine Gesetzesänderung im Jahr 1958 sogar noch auf die Mütter ausgeweitet. Bis dahin hörte man sie oft nur drohen: „I sag’s im Vatter, wenn dë id dë glichnë duësch.“ Ab diesem Zeitpunkt aber konnten auch sie zum Kochlöffel greifen, um ihre Kinder zu maßregeln. In der Nachkriegsgeneration ließ die Prügelstrafe zum Glück allmählich nach. Aber erst im Jahre 2000 kam es zu einem entgültigen Züchtigungsverbotes und einem Rechtsanspruch der Kinder auf gewaltfreie Erziehung. (BGB § 1631 Abs. 2)

Ohren-lang-ziehen, Kopfnüsse, Tatzen und Rohrstock waren auch in der Schule der 60er und 70er Jahre gang und gäbe. Noch 1957 entschied der Bundesgerichtshof beispielsweise, dass Lehrer ein Gewohnheitsrecht hatten, um Schüler zu schlagen. Gesetzlich verboten ist dies erst seit dem Jahr 1972.

Je dünner das Stöckchen war und je näher es bei den Fingerspitzen auftraf, desto schmerzhafter die Prozedur.

Ich sehe mich noch mit einem guten halben Dutzend anderer Zweit- und Drittklässler im Spalier vor Lehrer Steidle im alten Schulhaus stehen; wir die Hände weit ausgestreckt, er den Rohrstock in der geballten Hand. Wir hatten in der Pause auf der Treppe gelärmt und dadurch vielleicht den Ratschreiber oder den Bürgermeister gestört, die im selben Gebäude arbeiteten. „Mit wem soll ich anfangen. Wer meldet sich freiwillig?“, stellte er uns zur Wahl. Ich hatte die Vermutung, dass Tapferkeit vielleicht belohnt und der Mutigste straffrei ausgehen würde. Daher war ich kurz davor den Finger zu heben. Aber ich hatte auch Angst vor den brennenden Schmerzen und zögerte. Da hob Klaus Dreher beherzt die Hand und kurz darauf sauste der Stock mit voller Wucht nieder. Wir waren nun alle schockiert und gespannt, wie es weitergehen würde, wer wohl der nächste wäre. Doch nach dieser „Gewalttat“ war Steidles Wut und Lust an weiterer Züchtigung verflogen und wir durften wieder abtreten, alle unbehelligt außer Kurt. Ich fand es zwar nicht richtig, aber ich freute mich natürlich trotzdem, dass dieses Mal die Feigheit prämiert worden war.

Mit derlei Maßnahmen verschafften sich die Erwachsenen zwar Respekt, machten sich aber gewiss nicht beliebt.

Schlauer, als selbst den Bösen und Strafenden zu spielen, war es, die Angst vor äußeren Gefahren zu schüren. Dann wurde man selbst zum Beschützer seiner Kinder und das Zuhause zu einem Refugium.

Eine Gestalt, derer man sich dabei bediente, war die „Nachtfrau“. Sie hatte es auf Kinder abgesehen, die nach Einbruch der Dunkelheit noch unterwegs waren. Keiner wusste genau, wie sie aussah, und es musste nicht einmal gesagt werden, was sie mit den Kleinen anstellte. Der Name allein genügte, um die kindlichen Horrorphantasien in Gang zu setzen, die sich in Zeichnungen alter Märchenbücher finden.

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Dann gab es auch die gruseligen Männer, die damit drohten, die Kinder in den Sack zu stecken und mitzunehmen, wenn sie nicht brav waren. Ein Szenarium, das wohl schon vor vielen Jahrhunderten erfunden wurde, um aus Kindern gehorsame Geschöpfe zu machen, wie Holzschnitte aus dem 17. Jahrhundert zeigen.

Ich selbst erlebte diese Bedrohung realiter in der Person eines alten, alleinstehenden Mannes, der beim Gehen ein steifes Bein nachzog, immer schwarz gekleidet war und Herr Scherer hieß. Er näherte sich nach der Kirche manchmal ungefragt meiner Mutter und mir und fragte sie mit rauher, Unheil verheißender Stimme: „Warer brav? Susch stekkin in Sack!

Auch mein Großvater, Viktor Lindenmayer sen., machte sich mitunter einen Spaß daraus, Kindern das Gruseln zu lehren, wenn er bei Hausschlachtungen sein oft blutverschmiertes Metzgermesser zwischen die Zähnen schob und den Kleinen einen wilden Blick zuwarf. Dasselbe tat er, wenn der Ball beim Kicken auf der Straße in seinem Garten landete und seine geliebten Pfingstrosen und Gartenzwerge Schaden litten. Dann riss er das Fenster auf, streckte den Kopf mit dem Messer im Mund hinaus und drohte damit, den Ball abzustechen, wie man es bei ihm beim Schlachten von Schweinen und Zicklein ja schon erlebt hatte. Dann waren Mut und Schnelligkeit gefragt, um rasch über den Zaun zu klettern, den Ball zu schnappen und damit abzuhauen, bevor er uns zuvor kam.

Während heute durch die Verniedlichung von Monstern bei Kindern Ängste abgebaut werden sollen, waren die Illustrationen früherer Tage auf das Äußerste bemüht, das Ungeheuerliche möglichst realistich und glaubwürdig in Szene zu setzen. Kinderfresser von heute haben jeden Schrecken verloren. Sie wurden zu Freunden, die einem helfen, Abenteuer zu bestehen. Früher bestand das Abenteuer darin, den Kinderfressern durch List und Tücke zu entkommen, wie in den Geschichten von „Däumling“ oder „Der Teufel mit den drei goldenen Haaren“.


Selbst wenn sich in den letzten fünfzig Jahren vieles getan hat in Sachen angst- und gewaltfreier Erziehung, scheint man bei disziplinarischen Maßnahmen auch heute auf Druck und Drohung nicht gänzlich verzichten zu wollen. Aber während man zwei Generationen zuvor noch nächtliche Monster oder furchteregende Mitmenschen rekrutieren musste und echte „Folterwerkzeuge“ zum Einsatz kamen, um Kindern Gehorsam abzuverlangen, ist dies heute viel einfacher zu erreichen.
Es genügt der kurzzeitige Entzug von Handy oder Smartphone.

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