„Mädlehocker“

„Mädlehocker“ war eine der schlimmsten und folgenschwersten Anschuldigungen, der man als 5-10 jähriger Junge vor ca. 60 Jahren durch Mitglieder seiner Peergroup, also durch den Kreis seiner engsten Spielkameraden ausgesetzt war. Sie konnte im günstigsten Fall fiese Hänseleien zur Folge haben, aber auch den zeitweisen Ausschluss aus der „Bande“ bedeuten. Ein „Mädlehocker“ war einer, der dabei erwischt wurde, wie er allein und wiederholt mit Mädchen spielte. Womöglich gar mit Puppen oder „Vatter- und Mutterles“.

Natürlich spielten wir Jungs als Kinder auch manchmal mit Mädchen, aber nur in der Gruppe, wenn z.B. in der Straße „Vuschtecke“, „Fange“ oder „Ländle stäälë“ auf dem Programm standen. Aber alleine mit Mädchen … nein … niemals. Höchstens mit der Schwester oder ganz-ganz still und heimlich. Ein Mädchen seinen Kumpels vorzuziehen, war ein absolutes „No-Go“. Ob es bei den Mädchen ähnlich dramatische Folgen hatte, Buebehocker(in) genannt zu werden, weiß ich nicht. Ich bin ja vom andern Geschlecht.

Die Zeit der Geschlechtergleichstellung  war noch nicht angebrochen, ja nicht einmal in Sichtweite. Daher bildete sich im Verhalten von uns Kindern wahrscheinlich nichts anderes ab, als das damals vorherrschende Gesellschaftsbild. Die Stellung und der Wirkungsbereich von Frauen und Männern, kurz die Geschlechterrollen, waren meist stark traditionell geprägt und streng voneinander getrennt.

Frauen und Männer sah man wenig zusammen im öffentlichen Leben. Die Geschlechtertrennung zeigte sich, wie auf dem Titelfoto, auch in der Sitzordnung in der Kirche; die Frauen auf der linken, die Männer auf der rechten Seite. Selbst beim Baden im Strandbad sah der erste Entwurf der Bade-Ordnung von 1911 eine strikte Trennung von Männlein und Weiblein vor. Punkt 14: „Das Anschwimmen der entgegengesetzten Anstalten ist verboten.“

Väter schoben seinerzeit selten einen Kinderwagen und spielten wenig mit ihrem Nachwuchs solange dieser klein war. Mütter tauchten noch seltener beim „Frühschoppen“ oder aus anderem Anlass am Stammtisch auf. Andernfalls wäre es dort augenblicklich still und für den Ehemann ganz sicher etwas peinlich geworden.

Auf einem Foto des damaligen Gemeinderates ist zwischen 10 Männern eine einzige Frau zu sehen; immerhin zur Rechten des Bürgermeisters.

Das spiegelt die Situation auf nationaler Ebene wieder. 1961 waren Frauen im Deutschen Bundestag gerade einmal zu 9,4 % vertreten; ein Wert der bis 1972 sogar noch bis auf 5,8 % sank und zum ersten Mal 2002 (!) das heutige Niveau von 31,4 % erreichte. Zuvor, während der Zeit der national-sozialistischen Schreckensherrschaft, lag der Prozentsatz von Frauen in der Politik bei 0 %. Eine Geschichtsperiode, die 1960 ja erst 15 Jahre zurücklag.

Gender-Mainstreaming  begann mit einem kleinen Specht namens Dietmar

Dass man sich als Junge konstruktiv und kreativ mit Mädchen befassen konnte, diese Erkenntnis drang an jenem Tag blitzartig in mein Bewusstsein, an dem Dietmar Specht, mit dem ich bald „Blutsbrüderschaft“ schließen sollte, seinen 10. Geburtstag in Ludwigshafen feierte. Es war seine erste Geburtstagsfeier hier im Ort, denn er war erst vor Kurzem von Bodman in den Hafen immigriert. Aus diesem Grunde konnte er natürlich noch nicht wissen, wie das hier bei uns so läuft und wie man sich als richtiger Kerl zu benehmen hätte und fühlte sich als „Mädlehocker“ offenbar pudelwohl.

Nur so konnten wir es uns erklären, dass er zu seinem Fest keinen einzigen Jungen eingeladen hatte, sondern in der „Krone“ mit einem halben Dutzend hübschester Bodmaner Mädchen tafelte, wie mit einem Hofstaat. Naja, das war vielleicht dem gräflichen Ambiente seiner alten Heimat geschuldet.

Wir drückten uns die Nasen an der Fensterscheibe des Restaurants platt und trauten unseren Augen nicht. Keine Sekunde ließen wir das Geschehen von da an unbeobachtet und verfolgten zum Schluss, aus sicherer Entfernung versteht sich, die entzückende Geburtstagsgesellschaft, bis sie mit dem „Bootle“ wieder die Heimreise antrat, vom Heck des Schiffs ein letztes Mal ihrem „Prinzen“ winkend.

Ob es in Bodman damals Usus war, sich als Junge an seinem Geburtstag nur von Mädchen feiern zu lassen oder ob es der provokative Einfall eines kecken Spechts war, habe ich mich nicht gefragt. Was ich mich aber gefragt habe, war, ob wir hier auf der anderen Seeseite jahrelang etwas falsch gemacht hatten.

Die Basis für einen Gesinnungswandel und eine dadurch ausgelöste Verhaltensänderung war damit gelegt. Zwar hatte es Dietmar mit der Frauenquote damals etwas übertrieben, aber sein Beispiel hat Wirkung gezeigt. Heute gehen Männer in Elternzeit, wechseln Windeln, kochen Brei, spielen Blindekuh und singen Heia Popeia. Der Vatertag, den wir am heutigen Tage feiern, wird nun seinem Namen voll gerecht. Bravo, Blutsbruder!

Dietmar (rechts außen) und seine Mannschaft.

PS: Dass Dietmar -trotz der vielen Weiber an seinem Geburtstag- für sich beanspruchte, ein richtiger Kerl zu sein, machte er bald klar, als er damit begann, sein Revier abzustecken und seine Stellung zu behaupten. Bei unserer nächsten Begegnung schlug er mich gleich in die Flucht, als ich an der Krone vorbei nach Hause gehen wollte. Weshalb eigentlich, hab ich vergessen.

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